Zertifikatskurse – 147 Jahre bis zum fachgerechten Unterricht?

In einer kleinen Anfrage der SPD-Fraktion zur Lehrerversorgung für das Unterrichtsfach „Wirtschaft-Politik“ führt die Landesregierung aus, dass Lehrkräfte mit Fakultas Sozialwissenschaften zwar fachgerecht unterrichten könnten, aber dennoch keine Lehrbefähigung für Wirtschaft/Politik hätten:

„Insgesamt 9.605 Lehrerinnen und Lehrer mit dieser Lehrbefähigung haben demnach im Sinne der Aussagen im zitierten Interview die nötigen Voraussetzungen, das schulische Fach „Wirtschaft-Politik“ fachgerecht zu unterrichten. Ihr Unterricht ist in diesem Sinne nicht „fachfremd“. Unabhängig davon können sie noch nicht über eine Lehrbefähigung in dem neuen Fach der Lehrerausbildung (ebenfalls „Wirtschaft-Politik“) verfügen, dessen Einführung in der Lehramtszugangsverordnung (LZV) geplant ist (…).“

Quelle: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN – 17. Wahlperiode Drucksache 17/12231, S. 2

Weiter wird in der Anfrage ausgeführt: „Lehrkräfte mit einer Fakultas für das Fach Sozialwissenschaften dürfen Wirtschaft-Politik nur vertretungsweise unterrichten.“ (Ebd., S. 1)

Nachvollziehbar ist die Argumentation nicht, aber es geht auch nicht um Logik, sondern um machtpolitisches Kalkül.

Die Argumentation des MSB ist inkonsistent in sich selbst, denn einerseits verfügen Sowi-Lehrkräfte über die Qualifikation zum Unterrichten des Schulfachs „Wirtschaft-Politik“, andererseits sollen sie nach Aussagen des Staatssekretärs nicht über die Lehrbefähigung verfügen.

Die Landesregierung hat eine Lösung für das Problem parat:

„Für sie besteht laut dem Staatssekretär die Möglichkeit, über die Bezirksregierungen einjährige Zertifikatskurse zu nutzen, um eine unbefristete Unterrichtserlaubnis für das neue Fach zu erhalten. Fortbildungen sind jedoch nicht verpflichtend.“

Für die Qualifizierung möchte das MSB 65 Zertifikatsplätze anbieten.

„Derzeit bietet die Bezirksregierung Köln bereits einen Zertifikatskurs „Wirtschaft-Politik“ mit 20 Plätzen an. Daran nehmen auch einzelne Lehrkräfte aus den Regierungsbezirken Arnsberg, Düsseldorf und Münster teil. Das Angebot wird im nächsten Schuljahr auf 40 Plätze vergrößert werden; die Bezirksregierungen Arnsberg, Detmold und Münster planen zudem die Einrichtung eines gemeinsamen Zertifikatskurses mit bis zu 25 Plätzen.“ (Ebd., S. 2)

Die Intention der Zertifikatskurse wird in der BASS wie folgt definiert:

„Durch Zertifikatskurse sollen Engpässe in der Unterrichtsversorgung ausgeglichen werden, indem sich Lehrkräfte berufsbegleitend für den Unterricht in einem weiteren Fach / einer weiteren Fachrichtung ihres Lehramtes qualifizieren.

Die Zertifikatskurse richten sich an unbefristet tätige Lehrkräfte, die das jeweilige Fach / Fachrichtung in der jeweiligen Schulform bereits unterrichten oder während der Qualifizierungszeit unterrichten werden, ohne hierfür eine Lehrbefähigung zu besitzen. (Bezug: BASS 20-22 Nr. 8 Fort- und Weiterbildung: Strukturen und Inhalte der Lehrerfort- und –weiterbildung).

Die Kurse sind kompetenzorientiert angelegt und führen – sofern es sich um einen Zertifikatskurs in einem Unterrichtsfach handelt – nach erfolgreicher Teilnahme zu einer entsprechenden unbefristeten Unterrichtserlaubnis“.

Quelle: Bezug: BASS 20-22 Nr. 8 Fort- und Weiterbildung: Strukturen und Inhalte der Lehrerfort- und Weiterbildung

In Nordrhein-Westfalen gab es zum Schuljahr 2019/2020 laut den amtlichen Schuldaten an allen Schulformen 9605 Lehrkräfte mit Fakultas „Sozialwissenschaften“.

Quelle: https://www.schulministerium.nrw.de/system/files/media/document/file/quantita_2019.pdf, S. 59

Eine kleine Berechnung zeigt die zukunftsweisende Politik der Landesregierung:

9.605 Lehrkräfte mit Fakultas Sozialwissenschaften geteilt durch 65 Zertifikatsplätze/Jahr gleich 147 Jahre bis alle Lehrkräfte die Lehrbefähigung für Wirtschaft/Politik erworben haben. Die fachfremd unterrichtenden Lehrkräfte (Sport, Geschichte, Religion) sind hier noch nicht berücksichtigt.

In 147 Jahren – man kann den Sowi-Lehrkräften nur ein langes Leben wünschen – dürfen sie endlich wieder alle fachgerecht „Wirtschaft/Politik“ unterrichten.

Da dem MSB bewusst ist, wie dünn das Angebot an Zertifikatskursen ist, hat die Landesregierung auch hier eine Lösung:

„Zusätzlich existieren zahlreiche externe Fortbildungsangebote z. B. von Universitäten, der Deutschen Bundesbank oder verschiedenen Verbänden und Stiftungen. In diesen Fällen entscheiden die Schulen eigenverantwortlich darüber, ob eine Teilnahme für sie in Betracht kommt und ob sie das ihnen zur Verfügung stehende Fortbildungsbudget hierfür einsetzen.“

Quelle: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN – 17. Wahlperiode Drucksache 17/12231, S. 2

Die Industrie- und Wirtschaftsverbände sollen also die Lehrerfortbildung der Lehrkräfte übernehmen (siehe Brandbrief der DVPB NW).

Die Hochschulen könnten einen Erweiterungsstudiengang „Wirtschaft“ anbieten, ohne geklärte Finanzierung!

Noch absurder wird die Argumentation der Landesregierung, wenn man bedenkt, dass die Zertifikatskurse von Fachleiterinnen und Fachleitern mit Fakultas für Sozialwissenschaften (!) erteilt werden. Lehrkräfte, denen vom Schulministerium die Kompetenz abgesprochen wird, Wirtschaft-Politik fachlich korrekt zu unterrichten, bilden die künftigen Wirtschaft-Politik-Lehrkräfte fort.

Langgediente Lehrkräfte sehen ihre berufliche Biografie diskreditiert. Nachdem sie 20, 30 und mehr Jahre die Unterrichtsfächer Sozialwissenschaften, Wirtschaft-Politik, Politik/Wirtschaft, Arbeitslehre/Wirtschaft etc. unterrichtet haben, soll ihnen – folgt man den Ausführungen in der „Kleinen Anfrage“ – die Lehrberechtigung abgesprochen werden.

Und was ist mit den Referendar*innen und Studierenden? Der Anteil fachfremd erteilten Unterrichts im Bereich der politisch-ökonomischen Bildung ist in NRW dramatisch hoch. Laut den amtlichen Schuldaten des Landes Nordrhein-Westfalen beträgt er an Gymnasien 25%, an Gesamtschulen 57,1% (24,9% Gesellschaftslehre), an Realschulen 61,5%, an Hauptschulen 79,3%  und an Sekundarschulen 80,2% (MSB NRW 2020, S. 132-134)*. Anstelle jedoch Sowi-Lehrkräfte einzustellen, bietet man ihnen derzeit vielfach nur befristete Verträge an. Welche Schulleiter*innen stellen noch einen Sowi-Absolventen ein, der rechtlich nicht die Lehrbefähigung für das Schulfach hat und diese aufgrund der geringen Anzahl an Zertifikatskursen auch nicht in naher Zukunft erwerben kann? In der gymnasialen Oberstufe dürften Lehrkräfte ohne Lehrberechtigung nicht zum Einsatz kommen, weil dort das Fakultasprinzip besteht. Bleibt das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften in der gymnasialen Oberstufe bestehen? Was hilft es den angehenden Sowi-Lehrkräften, wenn in der „Kleinen Anfrage“ zwar Vertrauensschutz zugesagt wird, aber ihnen quasi die der Erwerb der Lehrberechtigung für das Schulfach Wirtschaft-Politik vorenthalten wird? Was hilft es den Studierenden, die Lehrbefähigung für Sozialwissenschaften zu haben, wenn es das Unterrichtsfach bald nicht mehr geben sollte?

Werden sie noch verbeamtet, wenn sie nur die Lehrberechtigung für ein Unterrichtsfach haben?

*Quelle: https://www.schulministerium.nrw.de/system/files/media/document/file/quantita_2019.pdf

Quelle: LANDTAG NORDRHEIN-WESTFALEN – 17. Wahlperiode Drucksache 17/12231, S. 3

Auf der Homepage des Schulministeriums NRW rudert die Landesregierung jetzt zurück. Die bildungspolitische Sprecherin der FDP Müller-Rech spricht via Twitter von Falschmeldungen. Lehramtsstudierende würden instrumentalisiert. Selbstverständlich würden die Abschlüsse anerkannt. Warum aber gibt es dann Zertifikatskurse für Sowi-Lehrkräfte, wenn ihre Lehrbefähigung Sozialwissenschaften für Wirtschaft-Politik anerkannt werden soll?

Quelle: https://www.schulministerium.nrw.de/zur-aktuellen-debatte-um-die-lehramtsstudiengaenge-sozialwissenschaften-und-wirtschaft-politik

Vorstandsmitglieder der DVPB NW haben in diversen Veranstaltungen Vertreter*innen des MSB angefragt, was mit den angehenden Sowi-Lehrkräften passieren soll. Vielfach haben wir Schulterzucken gesehen. Es wurde auf die Zertifikatskurse verwiesen und sogar die Empfehlung ausgesprochen, die Sowi-Lehrkräfte könnten doch an die Grundschule gehen.

Zum Narrativ einiger FDP- und CDU-Politiker*innen gehören derzeit die Mär von den  „(Kleinen) Kapitalisten“. Kritik an den Plänen der Landesregierung wird abgebügelt, indem man behauptet, dass Kritiker*innen dem neuen Schulfach die Herausbildung von „Kleinen Kapitalisten“ unterstellen. Gewiss mag es auch diese Position geben, die durchaus legitim ist, schaut man aber auf die Kommentare der Petition „Sowi Bleibt“, dann erfährt man, was die Unterzeichnenden besonders bewegt, die Idee eines friedlichen, demokratischen Zusammenhaltes, der Wille, Kinder zu befähigen, Zukunft zu gestalten, indem sie ganzheitlich-sozialwissenschaftliche Perspektiven auf Wirtschaft, Politik und Gesellschaft erwerben, Lernende zu politisch-ökonomischer Mündigkeit zu befähigen oder der Kampf gegen Rassismus.

Quelle: https://www.change.org/p/bundesministerium-nrw-das-fach-sozialwissenschaften-darf-nicht-abgeschafft-werden-sowibleibt?recruiter=55644677&recruited_by_id=080bf510-c760-0130-069f-002219670981

Die LZV-Debatte ist exemplarisch für die Diskreditierungsstrategie gegen Sowi-Lehrkräfte, die in den letzten Jahren durch Befürworter des Monofachs „Wirtschaft“ aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und liberal-konservative Medien erfolgt ist. Ihre ökonomische Kompetenz wird infrage gestellt, ohne dass es auch nur eine halbwegs seriöse Studie gibt, die zu dieser Aussage berechtigt.

Nun gilt es, weiter zu kämpfen für den Erhalt des Studien- und Unterrichtsfaches Sozialwissenschaften. Soziologie ist nicht nur ein „Element“ gesellschaftlicher Bildung, sondern ein fundamentaler Bestandteil. Das muss sich in der Bezeichnung des Studien- und der Unterrichtsfaches spiegeln. Insgeheim weiß das FDP-geführte Schulministerium das auch. In allen gesellschaftswissenschaftlichen Lehrplänen, die das Ministerium im vergangenen Jahr (Sachunterricht in diesem Jahr) erlassen hat, wird von einem sozialwissenschaftlich-integrierten Fachverständnis ausgegangen.

Vorstand der DVPB NW, Bettina Zurstrassen (Vorsitzende)