Thema: Syrien – Das Pulverfass im Nahen Osten?

Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie den vorliegenden Text im Hinblick auf die Position des Autors zu einer möglichen Intervention in Syrien. 
  2. Stellen Sie das Prinzip der „Schutzverantwortung“ (Responsibility to Protect/R2P) strukturiert dar.
  3. Außenminister Westerwelle antwortete in einem Interview, veröffentlicht am 07.02.2013 im Wall Street Journal Deutschland auf die Frage: „Wie viele Menschen in Syrien müssen noch sterben, bis der Westen eingreift?“ wie folgt: „Ich bin gegen eine militärische Intervention in Syrien. Wir wollen den Menschen in Syrien helfen, aber wir müssen auch einen Flächenbrand in der ganzen Region verhindern. Lassen Sie mich deshalb mit einer Gegenfrage antworten: Wie viele Menschen könnten sterben, wenn in einem Flächenbrand ein Land nach dem anderen in der Region angezündet würde?“ Diskutieren Sie dieses Zitat vor dem Hintergrund des Textes.

Textgrundlage:

Nonnenmacher, Günther: Die syrische Tragödie. Aus: Frankfurter Allgemeinen Zeitung,15.04.2013: http://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/naher-osten/zwei-jahre-buergerkrieg-die-syrische-tragoedie-12116392.html

Günther Nonnenmacher ist ein deutscher Journalist und Mitherausgeber der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ).

Text:

Die syrische Tragödie

Siebzigtausend Opfer hat der syrische Bürgerkrieg nach Angaben der Vereinten Nationen bisher gefordert, mehr als eine Million Menschen sind auf der Flucht. Das Regime Assad bekämpft Aufständische mit schweren Waffen und bombardiert Städte ohne Rücksicht auf Verluste. (…) Ein Ende der Tragödie ist nicht abzusehen.

Anders als in Libyen, wo der Sieg über Gaddafis Armee nach monatelangen Kämpfen dank einer Flugverbotszone und mit Hilfe von Luftangriffen westlicher Staaten errungen wurde, haben sich die Regierungen, die gegen den Gewaltherrscher in Tripolis eingeschritten waren, bisher zurückgehalten. (…)

Das hat mehrere Gründe. Anfangs war die Lage in Syrien unklar, das Land war gespalten. (…) Anders als in Libyen gab es zunächst keine „befreiten Gebiete“, die man hätte schützen können, um den Aufständischen eine Operationsbasis zu sichern. In Syrien selbst war die Zusammensetzung des Widerstands unklar, die Exil-Opposition war und ist ein zerstrittener Haufen, der sich bis heute nur auf Minimalziele einigen kann, hauptsächlich westlichen Geldgebern zu Gefallen.

Auch die internationale Lage ist anders. Weil die westlichen Mächte in Libyen nicht nur die völkerrechtliche Schutzverantwortung wahrgenommen, sondern einen Regimewechsel betrieben hatten, blockieren Moskau und Peking im Fall Syriens bis heute den UN-Sicherheitsrat. Syrien ist im Gegensatz zu Libyen ein Kernland der arabischen Welt, mit hegemonialer Stellung im Libanon und mit einer gemeinsamen Grenze zu Israel. Eine Begrenzung des Konflikts auf Syrien wäre kaum möglich – der gesamte Nahe Osten würde wahrscheinlich in Mitleidenschaft gezogen.

Schließlich ist das Regime in Damaskus Teil einer schiitischen Achse, die von Iran über Irak und Syrien bis in den Libanon reicht. Diese Achse steht in einer historischen Auseinandersetzung mit den sunnitischen Mächten, von der Arabischen Halbinsel im Westen über Ägypten, über Nordafrika bis nach Afghanistan und Pakistan im Osten. Eine Intervention würde damit Teil eines geopolitischen Konflikts, mit kaum absehbaren Konsequenzen. Hinzu kommt, dass die Erfahrungen mit militärischem Eingreifen im Irak und in Afghanistan die westlichen Staaten enttäuscht und erschöpft haben.

Auch die Lage in Syrien selbst hat sich mit der Eskalation der Kämpfe verändert. Zwar dürfte sich heute eine Mehrheit der Syrer von Assad abgewandt haben, doch auch bei den Aufständischen hat sich eine Radikalisierung vollzogen. Die härtesten Kämpfe liefern Assads Armee heute islamistische Gruppen; die Al-Nusra-Front, die auf der amerikanischen Terrorliste steht und mit Al Qaida in Verbindung gebracht wird, hat angeblich mehr als fünftausend Mann unter Waffen. (…)

Kritiker des westlichen Abseitsstehens glauben, eine frühe Intervention hätte zu einem schnellen Sturz des Assad-Regimes führen können, viele Opfer verhindert und der ethnischen und religiösen Radikalisierung des Aufstandes und damit einem möglichen Zerfall des syrischen Staates vorgebeugt. Doch das ist wenig plausibel. (…)

Letztlich durchlaufen alle Revolutionen einen Zyklus der Radikalisierung; er hätte in Syrien nach einer Intervention gleichfalls stattgefunden. Erst wenn sich diese Dynamik erschöpft, kann eine Stabilisierung des Landes und der Region beginnen.