Thema: Der Europäische Einigungsprozess – Auf dem Weg zu den Vereinigten Staaten von Europa?

Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie den Text von Hans-Werner Sinn bezüglich seiner Position zur Zukunft Europas.
  2. Stellen Sie ein Ihnen bekanntes Szenario der europäischen Integration dar.
  3. Erörtern Sie aus politischer und ökonomischer Sicht, ob eine Vertiefung der europäischen Integration weiter vertieft werden sollte. Beachten Sie hierbei auch die Position des Autors.

Textgrundlage:

Sinn, Hans-Werner: Europäisches Mosaik statt amerikanischer Schmelztiegel. aus: Handelsblatt, 8.Oktober 2012 (gekürzt),

(www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/buch-auszug-europaeisches-mosaik-statt-amerikanischer-schmelztiegel/ 7227016.html, Zugriff: 14.06.2013)

Hans-Werner Sinn ist ein deutscher Ökonom, Hochschullehrer und Präsident des ifo-Instituts für Wirtschaftsforschung.

Text:

Europäisches Mosaik statt amerikanischer Schmelztiegel

Wie weit soll, wie weit muss europäische Integration gehen? Die Bankenregulierung schreit regelrecht nach mehr Konformität auf dem Kontinent. Doch die Chancen für Einigkeit waren selten schlechter als heute.

Das Motto der Vereinigten Staaten von Amerika lautet “De pluribus unum”: “Aus vielen das Eine”. Das Motto Europas ist “In varietate concordia”: “In Vielfalt geeint”.(…) Amerika ist der Schmelztiegel. Europa ist hingegen das über lange Zeiträume historisch gewachsene Mosaik aus unterschiedlichen Völkern und Kulturen. (…)

Vielleicht lässt sich die Idee der Vereinigten Staaten von Europa, von der wir Nachkriegskinder geträumt haben, nicht realisieren. Ich bin mir aber nicht sicher, denn für die Vertiefung der europäischen Integration und die Schaffung eines gemeinsamen Staates sprechen auch handfeste praktische Vorteile, die keineswegs eine gemeinsame Identität oder eine gemeinsame Sprache voraussetzen. Dazu gehören das Recht, sich frei über die Grenzen zu bewegen, die Freiheit des Waren- und Dienstleistungsverkehrs, die Rechtssicherheit für grenzüberschreitende wirtschaftliche Aktivitäten, eine Infrastruktur, die nicht an den Grenzen haltmacht, und nicht zuletzt gemeinsame Sicherheitsinteressen.

Der Bereich der Bankenregulierung ist das aktuellste Beispiel für kollektives Handeln. Wenn die Ge- und Verbote, die die Banken bei ihrem Geschäft beachten müssen, auf nationaler Ebene festgelegt werden, das Bankgeschäft aber international mobil ist, hat die nationale Regulierungsbehörde stets einen Anreiz, lasche Standards zu setzen, um das Geschäft nicht in andere Länder zu vertreiben, sondern von dort anzulocken. (…)

Es gibt noch viele ähnliche Beispiele aus dem Bereich der Normen, der Wettbewerbspolitik oder der Besteuerung, die man hier ebenso anführen könnte. Insofern sprechen viele grundsätzliche Erwägungen für eine weitere Vertiefung des europäischen Integrationsprozesses bis hin zur Schaffung eines gemeinsamen europäischen Staats.

Die Gefahr eines solchen Wegs liegt immer darin, dass kollektive Entscheidungsgremien nicht nur kollektive Leistungen erbringen, die für alle nützlich sind, sondern ihre Macht für die Umverteilung von Ressourcen zwischen den teilnehmenden Ländern missbrauchen. (…)

Die fiskalischen Entscheidungen des EZB-Rats sind ein besonders drastisches Beispiel für dieses Problem, denn es handelt sich dabei um einfache Mehrheitsentscheidungen eines nicht einmal demokratisch besetzten Gremiums, die auf eine massive Vermögensumverteilung zwischen den Staaten Europas und von unbeteiligten Steuerzahlern aus stabileren Ländern zu beteiligten Gläubigern weltweit hinauslaufen.

Der im Euro-Raum eingeschlagene Weg zur Haftungsunion, die gegen die Wünsche der Bevölkerung durchgepeitscht wird, führt nicht zu einem Bundesstaat im eigentlichen Sinne des Wortes, also nicht zu einem Bündnis von Gleichen, die sich in freier Entscheidung zusammentun und sich gegenseitig Schutz versprechen. Der Weg kann auch schon deshalb nicht zu den Vereinigten Staaten von Europa führen, weil ein Großteil Europas gar nicht mitmacht.

Die Behauptung, das Euro-System lasse sich in die Vereinigten Staaten von Europa verwandeln, hat ihre Überzeugungskraft verloren. Der jetzt eingeschlagene Weg in die Haftungsgemeinschaft wird viel eher zu einer tiefen Spaltung Europas führen.