Antwort auf die Stellungnahme von Frau Ministerin Gebauer und der bildungspolitischen Sprecherin der FDP im NRW-Landtag MdL Frau Müller-Rech

 

De-Professionalisierung der Lehrer*innenbildung per Verordnung

Es ist erfreulich, dass sich Frau MDL Müller-Rech (FDP) für Sozialwissenschaften im Sinne von #sowibleibt ausspricht. Hieran anschließend würden wir uns konkretere und rechtlich belastbare Aussagen wünschen. Wir würden uns daher über ein Gespräch auf der Ebene des Ministeriums für Schule und Bildung freuen und stehen dafür zur Verfügung.

Wir hoffen, in Gesprächen Kompromisse ausloten zu können, denn ansonsten steht zu befürchten, dass der Konflikt um das Unterrichts- und Studienfach „Sozialwissenschaften“ langfristig auch den Schulfrieden belastet. Eine Weiterentwicklung der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bildung  dürfte hiervon beeinträchtigt werden. Denkbar wäre hier auch eine parteiübergreifende und mit Vertreter*innen von Verbänden paritätisch besetzte Kommission.

Vorschläge für eine demokratische Weiterentwicklung der Lehrer*innenbildung und der Lehrpläne haben wir in unseren Stellungnahmen im Rahmen von Verbändeanhörungen mehrfach ausgeführt. Das gilt insbesondere beim Studien- und Unterrichtsfach Sozialwissenschaften, weil es um gesellschaftspolitische Fragen und Strukturen geht.

Unser Gesprächsbedarf ergibt sich beim heutigen Stand aus folgendem Sachstand und den mit ihm verknüpften Forderungen.

Lehrbefähigungen sind die Eintrittskarten zu einer ordentlichen jahrzehntelangen Laufbahn im Schuldienst. Sie können und dürfen nicht durch ein wenig leistungsfähiges Fortbildungssystem oder eine Begrifflichkeit wie „fachgerecht“, verbunden mit „Unterrichtserlaubnis“, ersetzt werden. Wir fragen: Bleibt es nun definitiv auch beim Lehramtsstudium Sozialwissenschaften (Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft, Soziologie) und bei einem entsprechenden Vorbereitungsdienst, der zum Erwerb einer dauerhaft gültigen Lehrbefähigung Sozialwissenschaften führt, welche nicht durch eine Lehrbefähigung Wirtschaft-Politik konkurrenziert wird? Wird diese Lehrbefähigung verlässlich erhalten oder wird sie in eine andere Lehrbefähigung integriert?
Wir werben hier, vor allem auch im Interesse unseres Nachwuchses und einer Sicherung der Lehrkräfteversorgung in der Domäne, für den völligen Verzicht auf die beabsichtigte Disruption des bestehenden Modells und für eine rechtsfeste Klärung, die völlige schul- und laufbahnrechtliche Transparenz und Planungssicherheit für alle Betroffenen herstellt. Es muss klar benannt werden, dass eine Lehrbefähigung Wirtschaft-Politik nicht eingerichtet wird.

Wir begrüßen, dass in der gymnasialen Oberstufe das Unterrichtsfach Sozialwissenschaften auf jeden Fall erhalten bleibt. Wir können umso weniger plausibel nachvollziehen, warum der Studiengang Sozialwissenschaften dann umbenannt werden muss. Hinzu kommt, dass der sozialwissenschaftliche Schwerpunkt im Wahlpflichtunterricht der Realschulen weiterhin durch das häufig gewählte Schulfach Sozialwissenschaften abgedeckt wird. Im Schuljahr 2019/20 gab es hier 1.668 Lerngruppen mit 33.535 Teilnehmenden (Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2019/20: 79).

Wir sprechen uns gegen eine unsystematische Reform durch Entkoppelung der Lehrämter an den Hochschulen aus.

Der Entwurf der Lehramtszugangsverordnung sieht vor, dass angehende Lehrkräfte Soziologie nur noch in „Elementen“ studieren sollen. Bisher wurden an den Hochschulen die drei Teildisziplinen Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Soziologie gleichgewichtig studiert. Der LZV-Entwurf, wird er in dieser Form umgesetzt, initiiert durch Verschiebungen und Abwertungen von Disziplinen einen De-Professionalisierungsprozess in der Sowi – Lehrerausbildung. Lehrkräften sollen in der gymnasialen Oberstufe und an Realschulen „Sozialwissenschaften unterrichten ohne ein fundiertes Studium der Teildisziplin „Soziologie“.
Damit Lehrkräfte gesellschaftliche Themen und Perspektiven im Unterricht mit den Schüler*innen thematisieren können, bedarf es aber einer fundierten soziologischen Expertise der Lehrkräfte. Wir stehen gesellschaftlich vor erheblichen Umbrüchen. Die Schule ist der Ort, an dem Schüler*innen lernen, über gesellschaftliche Konflikte zu diskutieren und sie zu analysieren sowie sich zu ihnen orientieren und mit ihnen umgehen zu können. Hierzu bedarf es professioneller, wissenschaftlich und praxisorientiert ausgebildeter Lehrkräfte, die diese Lern- und Orientierungsprozesse sachgerecht und lebensweltorientiert initiieren können. Wir fordern daher den vollen Erhalt der soziologischen Fachanteile im Lehramtsstudium mit den Anteilsdisziplinen Politikwissenschaft, Wirtschaftswissenschaft und Soziologie.

Wir weisen zudem darauf hin, dass der bundesweite Arbeitsmarkt für die Absolventen und Absolventinnen aus Nordrhein-Westfalen sich erheblich verengen würde.

Die Argumentation der Landesregierung, dass aufgrund einer gewissen Ausweitung des ökonomischen Bildungsanteils in der Sekundarstufe I die bestehenden Studiengänge grundsätzlich reformiert werden müssen, überzeugt nicht. Seit Langem unterrichten die Lehrkräfte mit der Lehrbefähigung Sozialwissenschaften in NRW in der Oberstufe Grund- und Leistungskurse Sozialwissenschaften, zum Teil mit wissenschaftspropädeutischem ökonomischem Schwerpunkt. Das fachliche Anspruchsniveau ist hier erheblich höher als in der Sekundarstufe I. Zu betonen ist zudem, dass der Vorgänger-Kernlehrplan „Politik-Wirtschaft“ für G8 von 2007 – der u. a. überraschend in der Presse als marktkritisch kritisiert wird – von der vorherigen CDU-FDP-Landesregierung unter Schulministerin Sommer erlassen wurde und seither kaum verändert wurde. Die Ausweitung ökonomischer Inhalte in diesem Lehrplan gegenüber dem Lehrplan „Politik (Wirtschaft)“ aus dem Jahr 1993 war bereits erheblich. Sie zog seinerzeit aber keinerlei Änderungen am bestehenden System der Lehrerbildung an den Hochschulen nach sich oder gar eine Änderung von Lehrbefähigungen. Seit über vierzig Jahren haben alle Landesregierungen das Studium und die Lehrbefähigung Sozialwissenschaften vorbehaltlos anerkannt, obwohl die Schulfächer Politik, Politik (Wirtschaft), Gesellschaftslehre, Sozialwissenschaften oder Politik-Wirtschaft – und am Berufskolleg Politik, Politik/Geschichte oder Politik/Gesellschaftslehre – hießen und ihre Bezeichnungen gelegentlich geändert wurden.

Die Argumentation überzeugt ebenfalls nicht mit Blick auf die Lehrkräfte mit einer Lehrbefähigung für die Sekundarstufe I. Sie unterrichten seit Langem u.a. an Haupt- und Gesamtschulen das Unterrichtsfach Arbeitslehre/Wirtschaft und andere Fächervarianten mit hohen ökonomischen Anteilen, auch mit Blick auf die Umsetzung der „Rahmenvorgabe Verbraucherbildung“ aus dem Jahr 2017.

Unterrichtsfächer mit einer Schwerpunktsetzung im Bereich der ökonomischen Bildung werden also seit Jahrzehnten erfolgreich von Sowi-Lehrkräften erteilt. Auch die neuen Fächerformate (KLPs 2019/2020) werden, so das Schulministerium, durch die in Dienst stehenden Kolleg*innen fachgerecht erteilt (siehe LZV-Entwurf, s. Kleine Anfrage der SPD vom 27. November 2020).

Lehrkräfte nehmen zudem freiwillig an Fortbildungsveranstaltungen teil, z. B. auch am Landesforum der DVPB NW, das vielfach ökonomische Schwerpunktsetzungen aufweist. Die Lehrkräfte arbeiten professionell und verfügen über eine ausgezeichnete Expertise im Bereich der (sozio-)ökonomischen Bildung.

Wir begrüßen es daher als folgerichtig, dass das Schulministerium von der geplanten Aberkennung (siehe Kleine Anfrage der SPD vom 27. November 2020) der Lehrbefähigung absieht. Wir können angesichts dessen aber auch keinen weiteren bedeutenden Reform- oder „Nachjustierungs“-Bedarf am bestehenden Modell der Lehrerbildung erkennen und lehnen die bisher geplanten massiv belastenden und ressourcenschädigenden Eingriffe in das System ab, welche zwangsläufig zulasten der gesamten politischen, gesellschaftlichen und ökonomischen Bildung in NRW gehen werden.

In keinem Lernbereich ist der Anteil des „von Lehrkräften ohne Lehrberechtigung“ erteilten Unterrichts so hoch wie in Wirtschaft-Politik/Politik/Sozialwissenschaften. Dieser betrug im Schuljahr 2019/20 an Hauptschulen 79,3%, an Realschulen 61,5%, an Sekundarschulen 80,2%, an Gemeinschaftsschulen 38,5%, an Gesamtschulen 57,1% und an Gymnasien 25% (Schulministerium NRW 2020, S. 131-133).

Wir betrachten das Engagement von Lehrkräften, die ohne Lehrbefähigung Politik-Wirtschaft, Gesellschaftslehre (und andere Fachbezeichnungen) erteilen, mit großer Bewunderung und Wertschätzung. Gleichwohl sind die quantitativen Befunde der empirischen Bildungsforschung recht eindeutig. Der Lernerfolg der Schüler*innen ist dort erheblich besser, wo der Unterricht von Lehrkräften mit einer entsprechenden Lehrbefähigung erteilt wird.
Wenn die Landesregierung die Qualität des Unterrichts im Bereich der politischen, ökonomischen und gesellschaftlichen Bildung erhöhen möchte, dann empfehlen wir dringend die Reduktion des „fachfremd“ erteilten Unterrichts im Bereich der Sozialwissenschaften und die Herstellung eines fairen, gleichwertigen Zugangs junger Menschen zu einer qualitätvollen ökonomischen, politischen und gesellschaftlichen Bildung im gesamten Bundesland und an allen Schulformen. Dies kann nur gelingen, wenn das bestehende System konsolidiert, mit Ressourcen versehen und nicht durch wenig zielführende Reformversuche destabilisiert wird.

Wir fordern zudem einen wertschätzenden und unterstützenden Umgang mit den Lehrkräften und dem Nachwuchs im System, die Nordrhein-Westfalen den nächsten Jahren verlieren könnte, wenn nicht zeitnah für die angehenden Sowi-Lehrerinnen und -Lehrer eine sichere Perspektive hergestellt wird.

Dies können und dürfen wir uns angesichts der massiven Herausforderungen durch die derzeitigen Umbrüche und Krisen in unserer Gesellschaft, in unserer sozialen Marktwirtschaft und in der Demokratie insgesamt nicht erlauben.

 

Vorstand der DVPB NW

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Quelle:

Schulministerium NRW (2020): Das Schulwesen in Nordrhein-Westfalen aus quantitativer Sicht 2019/20. Online verfügbar: https://www.schulministerium.nrw.de/system/files/media/document/file/quantita_2019.pdf.