Aufgaben:

  1. Analysieren Sie den Text im Hinblick auf die Position des Autors zur Bedeutung von Konjunkturprognosen.
  2. Erläutern Sie Konzept, Merkmale, Vordenker und Entstehungsgeschichte der Sozialen Marktwirtschaft.
  3. Entwickeln Sie argumentativ eine Gegenposition zu Straubhaar. Nehmen Sie abschließend im Lichte aller Pro- und Contra-Argumente Stellung dazu, inwieweit Konjunkturprognosen in der Sozialen Marktwirtschaft sinnvoll sind. Berücksichtigen Sie bei Ihren Überlegungen auch, dass es sehr unterschiedliche Prognosetools gibt, von denen Sie drei kennen.

TextgrundlageErschienen in der Online-Ausgabe von „Die Welt“ am 16.12.2014 https://www.welt.de/wirtschaft/article135429033/Warum-die-Kritik-an-Wirtschaftsweisen-unfair-ist.html (zuletzt zugegriffen am 10.10.2017)

Text:

Warum die Kritik an Wirtschaftsweisen unfair ist.

VonThomas Straubhaar

Was für ein Irrsinn! Da werden die Wirtschaftsweisen[1]in Grund und Boden gestampft, weil ihre Prognosen nicht eintreffen. Kein einziges Mal seit 2001 konnte der Sachverständigenrat[2]den Verlauf des Bruttoinlandsprodukts korrekt vorhersagen, und manchmal lag er mit seinen Vorhersagen gewaltig daneben. Deshalb sind die Wirtschaftsweisen im Urteil der Kritiker nichts anderes als „Quacksalber mit Professorentitel“.

Erstens würde bereits die Frage, wie die Abweichungen von Prognosen zu bewerten sind, etwas mehr Fairness verlangen. Denn das vernichtende Urteil über die Sachverständigen bezieht sich nicht auf eine fehlerhafte Voraussage des Bruttoinlandsprodukts (BIP) für vergangene Jahre. Vielmehr eskaliert die Kritik an den Wirtschaftsweisen, weil sie die Wachstumsrate falsch prognostiziert haben sollen.

Was etwas akademisch[3]klingen mag, führt in der Praxis zu einem gewaltigen Unterschied. Deshalb hier einmal die konkreten Zahlen: In seinem Gutachten vom November 2012 hatte der Sachverständigenrat ein BIP für 2013 von 2,827 Billionen Euro prognostiziert. Tatsächlich wurde dann im Jahr 2013 ein BIP von 2,809 Billionen Euro erwirtschaftet. Die Wirtschaftsweisen lagen somit übers ganze Jahr 2013 hinweg gerade einmal um 0,6 Prozent neben der Wirklichkeit.

Nur zum Vergleich: Wenn die Meteorologen in der 20-Uhr-„Tagesschau“ für den kommenden Tag eine Temperatur von zehn Grad Celsius voraussagen, dürften sie, um auf Augenhöhe der Wirtschaftsweisen zu sein, gerade einmal um 0,06 Grad danebenliegen. Man überprüfe einmal über die kommenden Weihnachtstage die tatsächlichen Abweichungen von Temperaturvoraussagen und sollte dann eigentlich die Frage problemlos beantworten können, wo die Quacksalber[4]sitzen.

Ein zweiter Punkt kommt dazu: Wirtschaftsprognosen sind durch das Phänomen der Selbstzerstörung gekennzeichnet. Darin unterscheiden sie sich fundamental von Wetterprognosen. Das Wetter ist „gottgegeben“. Die Prognose der Meteorologen hat nicht den geringsten Einfluss darauf, wie das Wetter tatsächlich werden wird. Dass heute der Mensch einen Klimawandel mitverursacht, ändert an der Unabhängigkeit des Wetters von seiner Prognose rein gar nichts.

Ganz anders ist die Wirkung von Wirtschaftsprognosen. Der Gang der Konjunktur ist eben nicht naturgesetzlich vorgegeben. Er ist „man-made“! Die wirtschaftliche Zukunft folgt nicht physikalischen Gesetzen. Sie wird durch menschliches Verhalten bestimmt. Anders als die Wetterprognose bleibt somit die Konjunkturprognose nicht ohne unmittelbare Reaktion der Menschen und deren Verhalten. Verströmt die BIP-Prognose Optimismus, werden Verbraucher ihr verfügbares Einkommen eher ausgeben, und es werden mehr und teurere Weihnachtsgeschenke gekauft. Ebenso werden Firmen eher geneigt sein, zu investieren und zusätzliche Arbeitskräfte einzustellen, und der Finanzminister wird etwas mehr Hoffnung für einen ausgeglichenen Staatshaushalt haben dürfen. Bei einer pessimistischen Prognose ist zu hoffen, dass Verbraucher, Unternehmer und die Wirtschaftspolitik gegensteuern. Die Konjunkturprognose schiebt also eine Verhaltensänderung an. Prognose und tatsächliches Ereignis sind somit nicht – wie beim Wetter – voneinander unabhängig. Vielmehr wird die wirtschaftliche Entwicklung von der Prognose mitbestimmt.

Gerade weil die Konjunkturprognose eine Verhaltensänderung bei den wirtschaftlichen Akteuren bewirkt, muss eine Bewertung ihrer Qualität deshalb besonders vorsichtig erfolgen. Die Prognose soll ja „warnen“ oder „Mut machen“. Menschen sollen gerade aufgrund der Prognose „mehr kaufen“ oder „weniger investieren“. Eine punktgenaue Vorhersage kann somit gar nicht das Ziel einer guten Konjunkturprognose sein. Entscheidend für die Qualität ist somit, ob eine Wirtschaftsprognose die menschlichen Verhaltensänderungen in die „richtige“ Richtung anschiebt – ob sie voraussagen kann, wann ein Aufschwung an ein Ende kommen, wann ein Abschwung beginnen wird.

Schafft sie dies, kann nämlich die Wirtschaftspolitik rechtzeitig reagieren und gegensteuern. Somit ist eine Wirtschaftsprognose dann „gut“, wenn sie Politik und Wirtschaft frühzeitig fundamentale[5]Änderungen der makroökonomischen[6]Rahmenbedingungen anzeigt. Wirtschaftsprognosen sollen Ungewissheit verringern, sie können Unsicherheit nicht beseitigen. Sie sollen aufzeigen, wie sich die Welt verändern könnte, nicht wie sie sich verändern wird. Es geht um Wahrscheinlichkeiten, nicht um Gewissheit. Es geht um Tendenzen, nicht um „Volltreffer“. Es geht um eine makroökonomische Fundamentalanalyse und nicht um eine Detailsteuerung. […] Deshalb sind Prognosefehler der Normalfall. Punktgenauigkeit bleibt die Ausnahme. Das sollten die Kritiker wissen. Sonst verfallen sie schlicht dem Irrsinn von Prognosen.

Autor: Thomas Straubhaar ist Professor für Volkswirtschaftslehre an der Universität Hamburg.

[1]Die Mitglieder des im nächsten Satz genannten Sachverständigenrats werden auch „Wirtschaftsweisen“ genannt.

[2]Vollständiger Name: „Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung“ – begutachtet für die Bundesregierung die wirtschaftliche Entwicklung und gibt Empfehlungen ab.

[3]akademisch = die Universität und Forschung betreffend, hier: abgehoben theoretisch ohne praktische Bedeutung

[4]Quacksalber ist ein volkstümlicherAusdruck für jemanden, der ohne die nötige Qualifikation und Befugnis und mit dubiosen Heilmitteln und -methoden der Heilkundenachgeht. Im übertragenen Sinne auch Hochstapler.

[5]fundamental = grundlegend

[6]makroökonomisch = gesamtwirtschaftlich

 

**Klausur und EWH: Klausur Konjunkturprognosen_