Wirtschaftspolitische Konzeptionen und die Bedeutung des Arbeitslohns (Inhaltsfeld 4)

 

  1. BeschreibenSie wesentliche Elemente einer nachfrageorientierten Wirtschaftspolitik nach John Maynard Keynes. (AFB I) (24 Punkte)
  2. a)AnalysierenSie das vorliegende Interview hinsichtlich der Position Stefan Sells zum Mindestlohn. (AFB II)(30 Punkte)

b) Arbeiten Sieaußerdemheraus, auf welche Gerechtigkeitsvorstellungen sich Sell implizit bezieht. (AFB II)(16 Punkte)

  1. NehmenSie ebenfalls Stellungzu der Forderung der Hans-Böckler-Stiftung, den Mindestlohn deutlich zu erhöhen. Beziehen Sie sich hierbei auf die Ausführungen Sells sowie die beiden wirtschaftspolitischen Grundpositionen. (AFB III) (30 Punkte)
!       Achten Sie außerdem auf Ihre Rechtschreibung, die Verwendung von Fachvokabular, eine korrekte Zitierweise, die sinnvolle Strukturierung Ihres Textes und die Trennung zwischen deutenden, wertenden und beschreibenden Aussagen.

              (Darstellungsleistung: 20 Punkte)

 

Materialgrundlage:

 

Zugelassene Hilfsmittel:

  • Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung

 

“Es gäbe gute Gründe für eine Erhöhung”

ZEIT ONLINE: Herr Professor Sell, die Böckler-Stiftung[1]fordert eine deutliche Erhöhung des Mindestlohns. Er solle vorübergehend stärker steigen als die Tariflöhne, schreiben die Autoren eines neuen Papiers. Ist das sinnvoll?

Stefan Sell: Wie hoch der Mindestlohn aus Arbeitnehmersicht sein soll – und aus Unternehmersicht sein darf –, darüber hat man sich lange gestritten, bevor er eingeführt wurde. Dass man sich damals letztlich auf 8,50 Euro pro Stunde geeinigt hat, war eine politische Entscheidung. Aus meiner Sicht gäbe es gute Gründe für eine Erhöhung. Aber weil der Gesetzgeber diese nur innerhalb ganz strenger Grenzen und nach genau festgelegten Regeln erlaubt, erübrigt sich die Forderung derzeit von vornherein.           […]

ZEIT ONLINE: Rein ökonomisch bleibt die Frage aber offen: Wie hoch soll – und darf – der Mindestlohn sein?

Sell: Ich finde, er müsste höher sein – und zwar aus mehreren Gründen. Einer ist: In vielen Branchen ist der Mindestlohn nicht die Lohnuntergrenze, als die er einmal gedacht war, sondern er wird als Referenzlohn genutzt. Das heißt, die Unternehmen dort zahlen zwar den Mindestlohn, aber auch nicht mehr. Das betrifft Millionen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Daraus könnte man ableiten, dass der Mindestlohn deutlich über zehn Euro liegen müsste. Der zweite Grund: Gerade in diesen Branchen verrichten die Leute oft harte Arbeit. Sollte die nicht besser bezahlt werden? Ich denke schon.

ZEIT ONLINE: Die Böckler-Stiftung begründet ihre Forderung mit den hohen Lebenshaltungskosten in den größten Städten. Ist das sinnvoll?

Sell: Das ist legitim, denn dahinter steckt das Argument, dass die Leute von ihrer Arbeit leben können müssen. Aber könnten die Unternehmen so viel zahlen? Das ist die andere Seite der Medaille.

ZEIT ONLINE: Das zielt auf die von Arbeitgebern oft geäußerte Warnung, ein zu hoher Mindestlohn würde massenhaft Arbeitsplätze vernichten.

Sell: Bislang hat sich die Befürchtung nicht bewahrheitet. Aber wo liegt die Grenze? Wenn wir Ökonomen ehrlich sind, müssen wir zugeben, dass Rechenmodelle uns nicht helfen, das herauszufinden. Um es wirklich zu wissen, müssten wir es testen. Das ist ein bisschen, als ob man einen Patienten ohne Narkose operiert und darauf wartet, ab wann er schreit. Sehr riskant.

ZEIT ONLINE: Die Forscher der Böckler-Stiftung haben ihre Ergebnisse an bestimmte Voraussetzungen geknüpft. Sie sagen zum Beispiel: In 19 der 20 größten deutschen Städte müssten die Stundenlöhne oberhalb des heute geltenden Mindestlohns von 8,84 Euro liegen – nur dann könnten Alleinlebende bei der durchschnittlichen tariflichen Wochenarbeitszeit von 37,7 Stunden mit ihrem Einkommen ihren Lebensunterhalt ohne zusätzliche Leistungen vom Amt bestreiten. Aber lässt sich so ein Ergebnis einfach auf andere Verhältnisse übertragen, also auf Paare, Familien mit Kindern, Teilzeitarbeitnehmerinnen – oder die Einwohnerinnen und Einwohner anderer Städte?

Sell: Das ist eine berechtigte Frage. Warum wurden ausgerechnet die 20 größten Städte untersucht? Das sind die Städte mit besonders hohen Mieten. Dort ist es natürlich besonders schwer, über die Runden zu kommen. Insofern ist das Ergebnis ein Stück weit erwartbar. Das kann man methodisch kritisieren – aber es ändert nichts daran, dass es hier ein grundlegendes Problem gibt: In diesen Städten reicht wegen der hohen Mieten vielen der Lohn nicht mehr aus, um die Lebenshaltungskosten zu decken.

ZEIT ONLINE: Der teure Wohnraum trifft aber alle, die dort wohnen, nicht nur Mindestlöhner.

Sell: Es ist ein generelles Problem im Niedriglohnbereich. Wir haben das gerade gesehen, als der Tarifabschluss für den öffentlichen Dienst verhandelt wurde. In den Großstädten hat der gleiche Tariflohn einen völlig anderen Realwert als im Hunsrück oder Westerwald. In einer idealen Welt hätten wir deshalb regional differenzierte Mindestlöhne, die das abbilden. Aber diesen theoretischen Ansatz hat man in Deutschland aufgegeben, denn das ist methodisch gar nicht sauber zu leisten.

ZEIT ONLINE: Warum nicht?

Sell: Es fehlen die validen Daten, um die Kaufkraftunterschiede auf lokaler Ebene so präzise abzubilden. Zudem würden lokal unterschiedliche Mindestlöhne Praktikabilitäts- und neue Gerechtigkeitsprobleme aufwerfen. Schon im benachbarten Landkreis könnte dann ein anderer Mindestlohn gezahlt werden – wo genau zieht man da die Grenze?

Außerdem: In reicheren Regionen, zum Beispiel in Bayern oder Baden-Württemberg, werden schon heute kaum Leute zum Mindestlohn angestellt. Gastwirte zum Beispiel müssen dort mehr zahlen, um Personal zu finden. In den Großstädten, wo die Wirtschaft auch brummt, ist die Lage etwas anders. Dort leben oft viele Menschen, die keine andere Alternative haben, als schlecht bezahlte Jobs anzunehmen, weil es viele von ihnen gibt. Sie arbeiten dann für Sicherheitsdienste oder reinigen Hotelzimmer.

ZEIT ONLINE: Was folgt nun daraus für den Mindestlohn?

Sell: Die Lösung kann nur eine bundesweit einheitliche Erhöhung sein. Ich denke, der Spielraum dafür wäre gegenwärtig vorhanden.

ZEIT ONLINE: Müssten dann nicht auch die Tariflöhne weiter steigen, zumindest am unteren Ende, um den Abstand zwischen qualifizierteren Kräften und den Empfängern des Mindestlohns zu wahren?

Sell: Als man den Mindestlohn einführte, dachte man, dass das automatisch passieren würde – dass also beispielsweise die Köche in der Gastronomie aufgrund des Mindestlohns für die Hilfskräfte entsprechend mehr Geld bekommen. Das ist aber oft nicht passiert; vor allem nicht in den Branchen, die gleichsam tariffreie Zonen sind. Die Verhandlungsposition der Arbeitnehmer dort ist – noch – zu schwach.

[1]Die Hans-Böckler-Stiftung ist das Mitbestimmungs-, Forschungs- und Studienförderungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB).

 

 

** Klausur mit EWH: SW LK Q1 Wirtschaftspolitik: Mindestlohn Klausur Version 2 + EWH