Aufgaben:

  1. Stellen Sie dar, wie die Wissenschaft versucht, ARMUT UNDsoziale Ungleichheit zu messen. WERTENSie dazu auch die Arbeitsmaterialien M1-M3 AUS.
  2. Analysieren Sie den Text im Hinblick auf die Position des Autors zu Armut und Ungleichheit in Deutschland.
  3. Erörtern Sie kriteriengeleitet unter Berücksichtigung der Position des Autors und Ihrer Erkenntnisse aus Aufgabe 1 entweder, ob die Hartz-IV-Regelung eine gelungene Reform darstellt, oderinwieweit die Erbschaftssteuer reformiert werden sollte.

Arbeitsmaterialien M1- M3 finden Sie mit der Klausur im Original und dem EWH hier: Klausur Armut_Erbschaftssteuer_Butterwegge_Mai2017_Lk_

Text: 

Krokodilstränen über die Armut. Christoph Butterwegge. Frankfurter Rundschauvom 5.10.2016

Immer dann, wenn eine neue Studie zur Armut von Kindern in Deutschland erscheint, schreckt die (Medien-)Öffentlichkeit der Bundesrepublik kurz auf, bevor die Regierungspolitik zur Tagesordnung übergeht und so tut, als sei nichts geschehen. Zuletzt erzeugte die Bertelsmann Stiftung mit eigentlich weder neuen noch Fachleute überraschenden Zahlen zum Hartz-IV-Bezug von Kindern und Jugendlichen einen wahren Medienhype. Denn sie verfügt […] über ausreichende Finanzmittel und eine professionell arbeitende PR-Abteilung[1].

Mit der Gütersloher Stiftung[2], die […] Gesellschaftsreformen vorantreiben und die „Prinzipien unternehmerischen Handelns“ in allen Lebensbereichen verankern will, wurde der Bock allerdings zum Gärtner:[3]Sie vergoss Krokodilstränen über die Kinderarmut, obwohl sie selbst zur Jahrtausendwende die damalige rot-grüne Koalition zu einer neoliberalen Reformagenda gedrängt und die Hartz-Gesetze mit vorbereitet hatte.

Seit […] Hartz IV […] am 1. Januar 2005 in Kraft trat, hat sich die Zahl der Minderjährigen, die von staatlichen Fürsorgeleistungen leben, beinahe verdoppelt. Betrug die Zahl der Kinder und Jugendlichen, die vorher Sozialhilfe bezogen, etwas mehr als eine Million, beziehen heute fast zwei Millionen der unter 18-Jährigen das im Volksmund ebenfalls „Hartz IV“ genannte Sozialgeld.

Wie unsensibel die verantwortlichen Politiker für das Armutsproblem sind und welch hohes Maß an Gleichgültigkeit ihre Parteien gegenüber den davon Betroffenen an den Tag legen, zeigt sich an Folgendem: CDU, CSU und SPD haben die Bundesausgaben für die Kinder- und Jugendhilfe gekürzt und wollen das Sozialgeld der jüngsten Kinder (von 0 bis 5) im nächsten Jahr um keinen einzigen Cent erhöhen. Dabei muss eine alleinerziehende Mutter im Hartz-IV-Bezug, wenn sie Windeln kauft, eine von denselben Regierungsparteien auf 19 Prozent erhöhte Mehrwertsteuer zahlen.  Dagegen zahlt ein Reicher, der sich ein Reitpferd kauft, nur sieben Prozent. Und ein ganz Reicher, der sich ein Aktienpaket für 30 Millionen Euro kauft, muss überhaupt keine Umsatzsteuer[4]mehr zahlen, weil die Regierung Kohl[5]die Börsenumsatzsteuer 1991 abgeschafft hat […]. Mehr muss man über die Steuerungerechtigkeit in Deutschland eigentlich gar nicht wissen.

Den armen Kindern fehlt eine mächtige (Wirtschafts-)Lobby, wohingegen sehr reiche Eltern auch politisch einflussreich sind. Deswegen kann der Nachwuchs von Familienunternehmern, die in anderen Staaten als „Oligarchen“ bezeichnet, bei uns jedoch mit dem Kosenamen „Familienunternehmer“ belegt werden, ganze Konzerne erben, ohne Erbschaftsteuer in nennenswerter Höhe zahlen zu müssen. Seit die erste große Koalition[6]unter der Kanzlerin Angela Merkel den Unternehmerfamilien ermöglichte, Betriebsvermögen ab 1. Januar 2009 steuerfrei zu vererben oder zu verschenken, sind den teilweise hoch verschuldeten Ländern über 50 Milliarden Euro an Erbschaft- oder Schenkungsteuer dadurch entgangen, dass die von der anschließenden CDU/CSU-FDP-Koalition[7]noch einmal gelockerten Verschonungsregeln (meistenteils aus Gründen der Steuerersparnis lange vor dem Tod des Erblassers) in Anspruch genommen wurden. Laut Angaben des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) ging der größte Teil der steuerbefreiten Unternehmensübertragungen an Kinder unter 14 Jahren, die auf diesem Weg allein zwischen 2011 und 2014 etwa 40 Milliarden Euro erhielten. Die 92 Kinder mit Erwerben in Höhe von 20 Millionen Euro oder mehr erhielten fast 30 Milliarden Euro, was im Durchschnitt 323 Millionen Euro pro Kind entspricht. Den armen Kindern stehen also unvorstellbar reiche Kinder gegenüber, von denen fast nie die Rede ist.

Nach dem […] Kompromiss zwischen CDU, CSU, SPD und Landesregierungs-Grünen – die von der Linken mitregierten Bundesländer Brandenburg und Thüringen haben ihm ebenso wenig zugestimmt wie die Bundestags-Grünen – […] ist die neue Regelung für Firmenerben sogar günstiger als die ursprüngliche, vom Bundesverfassungsgericht bemängelte, weil der Buchwert[8]von Unternehmen durch Veränderung der Berechnungsart […] sank. Daher wird sich die Kluft zwischen Arm und Reich weiter vertiefen. Denn auch der demografische Wandel trägt seinen Teil dazu bei, dass sich riesige (Betriebs-) Vermögen in wenigen Händen konzentrieren. Wenn die Unternehmerfamilien in Zukunft wegen des allenthalben prognostizierten Geburtenrückgangs tendenziell schrumpfen, wächst automatisch der ihren wenigen Nachkommen zufallende Reichtum.

Christoph Butterwegge lehrte von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln. Heute, am 5.10.2016, erscheint sein Buch „Armut“.

[1]PR-Abteilung – z.B. eines Unternehmens für Medienarbeit zur Steuerung der öffentlichen Aufmerksamkeit im Sinne dieser Firma oder ihrer Branche.

[2]Die Bertelsmann-Stiftung hat wie der Konzern, aus der sie hervorgegangen ist, ihren Sitz in Gütersloh/Westfalen.

[3]Redewendung: Jemanden für eine Arbeit oder Aufgabe einsetzen, der etwas noch schlimmer macht.

[4]Umsatzsteuer = Mehrwertsteuer.

[5]Helmut Kohl (CDU) führte als Bundeskanzler in einer Koalition mit der FDP von 1982 bis 1998 die Bundesregierung.

[6]Die erste große Koalition unter Angela Merkel bestand von 2005 bis 2009.

[7]Diese bestand von 2009 bis 2013.

[8]In der Buchhaltung einer Firma wird aus steuerrechtlichen Gründen der bemessene Wert des Unternehmens aufgeführt.