Ökonomische Bildung ist schon seit vielen Jahren ein Hauptfach an Schulen ─ und in den Studienordnungen verankert
Sprache ist entlarvend, „Wir haben das Schulfach Wirtschaft eingeführt“ oder „Die Kritik am Schulfach Wirtschaft ist gegenstandslos“ (Frohn 2020) verkündet die FDP in Nordrhein-Westfalen. Zugleich wird suggeriert, dass es vorher keine ökonomische Bildung an Schulen in Nordrhein-Westfalen gegeben hat.
Das Gegenteil ist der Fall (Gökbudak/Hedtke 2018). Weggewischt wird, dass ökonomische Bildung seit Jahrzehnten in Unterrichtsfächern wie Sozialwissenschaften, Geschichte, Erdkunde, Arbeitslehre/Wirtschaft etabliert ist.
Die Stundentafel des Unterrichtsfachs Geschichte wurde im vergangenen Schuljahr mit der Verpflichtung, diese Unterrichtszeit für ökonomische Inhalte zu verwenden, um eine Unterrichtsstunde erweitert. Im Deutschunterricht wird das Verfassen von Bewerbungen vermittelt und auch in Geografie/Erdkunde sind ökonomische Aspekte umfassend verankert.
Hinzu kommt eine steigende Anzahl schulisch begleiteter außerschulischer bzw. schulfremder berufsorientierenden Maßnahmen wie das Betriebspraktikum, die Potentialanalyse, der Besuch von Berufsmessen, der Besuch von Versicherungsvertretern und Bankmitarbeiter*innen im Unterricht.
Ökonomische Bildung an Schulen in Nordrhein-Westfalen wurde schon vor der Einführung des Unterrichtsfachs „Wirtschaft-Politik“ im Umfang eines Hauptfaches unterrichtet.
Dementsprechend sind ökonomische Lehrinhalte in den Lehr-amtsstudiengängen seit Jahrzehnten verankert.
Gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit – nur ein Nischenthema in den Lehrplänen
Die Expansion der ökonomischen Bildungsinhalte geht zu Lasten politischer und gesellschaftlicher Themen. Die DVPB NW hat zum Beispiel in der Verbändeanhörung zum Lehrplan „Wirtschaft-Politik“ die Forderung aufgestellt, ein Inhaltsfeld „Gruppenbezogene Men-schenfeindlichkeit“ (Rassismus, Antisemitismus, Homophobie, Frauenfeindlichkeit, Menschen mit Behinderung etc.) im Lehrplan aufzunehmen. Vor lauter Wirtschaft war für dieses zentrale Inhaltfeld kein Raum. Immerhin hat man den Katalog der Sachkompetenzen ergänzt, indem die Lernenden die Merkmale und Erscheinungsformen von Extremismus, Antisemitismus und gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit erläutern können sollen. Verkürzt wird dieses dann in den Urteilskompetenzen auf die Beurteilung der „ … Gefährdung der freiheitlich-demokratischen Grundordnung durch Rechts- und Linksextremismus“ (MSB 2019, S. 28). Von den Auswirkungen rechtsextremistischer Gewalt auf die betroffenen Menschen, für den gesellschaftlichen Zusammenhalt ist keine Rede.
Wir erleben derzeit eine zunehmende kulturelle-politische Spaltung durch Rechtsextremismus, hitzige Debatten über die COVID-19-Pandemie, den Klimawandel, die durch die Gesellschaft und Familien geht, Freundschaften entzweit. Die soziologische Auseinandersetzung mit dieser gesellschaftlichen Entwicklung kann Kinder und Jugendliche dabei unterstützen, diese Prozesse zu erschließen, dialogfähig zu bleiben und sie politisch, aber auch emotional widerstandsfähiger zu machen.
Sechs Schulstunden für die Auseinandersetzung mit „Extremismus“, gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit
Bei 52 Sachkompetenzen, die im Lehrplan Wirtschaft-Politik aufgelistet werden, bleibt ohnehin nicht viel Zeit für die Auseinandersetzung mit gruppenbezogener Menschenfeindlichkeit. Ausgehend von der Stundentafel werden in der gesamten Sekundarstufe I acht Unterrichtsstunden veranschlagt. Bei konservativ gerechneten 40 Schulwochen verbleiben sechs Unterrichtsstunden für den “Themenkomplex” in einem Schüler*innenleben (Sek. I).
Im Unterschied dazu wird schon für die Potentialanalyse, als eine von vielen berufsorientierenden, ökonomischen Bildungsmaßnahmen, mehr Zeit veranschlagt.
Forderungen von Schüler*innen und Politik nach mehr politischer Bildung werden ignoriert
International gibt es Forderungen von jungen Menschen nach mehr politischer Bildung, und auch die Landesschüler*innenvertretung NRW sprach und spricht sich gegen ein Schul- und Studienfach „Wirtschaft-Politik“ aus (2021). Sie befürchten eine weitere Verdrängung politisch-gesellschaftlicher Bildungsinhalte.
Im 16. Kinder- und Jugendbericht der Bundesregierung wird ausgeführt, „Demokratie verlangt mehr politische Bildung“ (BFSFJ 2020, S. 7). Die Bundesregierung spricht von einer ständigen Verpflichtung, die Bedeutung und Verantwortung der politischen Bildung angemessen zu würdigen und zu fördern (BFSFJ 2020, S. 7).
In Nordrhein-Westfalen verhallt diese Forderung bei der FDP und auch bei der CDU – trotz der in der Landesverfassung in Artikel 11 verankerten Verpflichtung, wonach in allen Schulen Staatsbürgerkunde Lehrgegenstand und staatsbürgerliche Erziehung verpflichtende Aufgabe ist.
Der Vorstand der DVPB NW,
verantw. Dr. Bettina Zurstrassen
Quellen:
Bundesministerium für Familie, Senioren, Frauen und Jugend (2020): 16. Kinder und Jugendbericht. Förderung demokratischer Bildung im Kindes- und Jugendalter. Online verfügbar: https://www.bmfsfj.de/blob/162232/27ac76c3f5ca10b0e914700ee54060b2/16-kinder-und-jugendbericht-bundestagsdrucksache-data.pdf.
Frohn Philip (2020): „Die Kritik am Schulfach Wirtschaft ist gegenstandslos“. In: Handelsblatt vom 03.08.2020, online verfügbar: https://www.wiwo.de/politik/deutschland/bildungspolitik-die-kritik-am-schulfach-wirtschaft-ist-gegenstandslos/26062684.html.
Gökbudak, Mahir/Hedtke, Reinhold (2018): Wirtschaft gut – Politik mangelhaft. Ökonomische und politische Bildung in der Sekundarstufe I in Nordrhein-Westfalen. Online verfügbar: https://pub.uni-bielefeld.de/download/2932554/2932703/Gökbudak_Hedtke_Wirtschaft_gut_Politik_mangelhaft_final_WP8_2018.pdf.
Landesschüler*innenvertretung NRW (20201: Nein zur Abschaffung des Faches Sozialwissenschaften. Pressemeldung vom 28.01.2021, online verfügbar: https://lsvnrw.de/aktuell/pressemitteilung-nein-zur-abschaffung-des-faches-sozialwissenschaften/.
Ministerium für Schule und Bildung NRW (2020): Kernlehrplan für die Sekundarstufe I Gymnasium in Nordrhein-Westfalen Wirtschaft-Politik. Online verfügbar: https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/lehrplan/215/g9_wipo_klp_%203429_2019_06_23.pdf.