Thema

Das BIP als Indikator für Wachstum und Wohlstand?

Aufgaben

  1. Stellen Sie das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz (Ziele, Indikatoren, Konflikte) dar.
  2. Analysieren Sie den Text hinsichtlich der vom Autor vertretenen Position bezüglich Wachstum und Wohlstand. Beachten Sie dabei, dass Sie die Argumentationsstruktur herausarbeiten und die Intention des Autors herausstellen.
  3. Erörtern Sie inwiefern das BIP aus Ihrer Sicht als Indikator für Wachstum und Wohlstand geeignet ist und diskutieren Sie ggf. geeignete Alternativen!
  4. Nehmen Sie abschließend Stellung zu der in Aufgabe zwei herausgearbeiteten Position!
Textgrundlage

Quelle: Gerd Maas: Denkt weiter!; in: DIE ZEIT, 17.2.2011 Nr. 08;
http://www.zeit.de/2011/08/Debatte-Wachstum-Wohlstand/komplettansicht; Zugriff am 24.09.2011

Text

Denkt weiter!

 Das richtige Maß zu finden ist eine zentrale menschliche und gesellschaftliche Überlebensfähigkeit. Hätten die Ureinwohner der Osterinsel nicht maßlos ihre Palmenhaine dem Bau von immer monumentaleren Statuen geopfert, hätten sie sich am Ende vielleicht nicht gegenseitig auffressen müssen. Mit dem Verschwinden der Landvögel, wegen erodierender Böden und mangels seetüchtiger Kanus war ihnen die Nahrung ausgegangen.

 Um das richtige Maß geht es auch in der Wirtschaft. [..]. Einem klugen Unternehmer geht es dabei nicht um den kurzfristigen Profit, und ein Familienunternehmer misst seinen Erfolg an der Beständigkeit seiner Unternehmung über Generationen. Unsere Gesellschaft dagegen misst ihr gedeihliches Fortbestehen weiterhin vor allem am Bruttoinlandsprodukt [..] Die reale, sprich inflationsbereinigte Steigerung des Bruttoinlandsproduktes, danach streben alle Nationen. Das erklärte Ziel ist Wirtschaftswachstum.

 Es ist der zentrale Ansatzpunkt zur Schaffung neuer Arbeitsplätze und um die überbordende Staatsverschuldung endlich in den Griff zu bekommen. »Wachstum zu schaffen, das ist das Ziel unserer Regierung«, meinte Angela Merkel in ihrer Antrittsrede als Bundeskanzlerin im 17. Deutschen Bundestag. [..]

 Im vergangenen Herbst sah es kurzfristig so aus, als nähme die Debatte eine andere Wendung. Als gewönnen andere Kriterien an Bedeutung. Doch nun sind nur wieder die alten Stimmen zu hören, die das Wachstum feiern.

 Unmittelbar leuchtet das ein, mittelbar ist es aber verzwickter. Die Wirtschaftsnobelpreisträger von 2001, Joseph Stiglitz, und von 1998, Amartya Sen, [verdeutlichen] es an einem simplen Beispiel: Ein Verkehrsstau steigert das Bruttoinlandsprodukt, weil deswegen mehr Sprit verbraucht und daher verkauft wird. Aber die im Stau Stehenden werden das kaum als Gewinn empfinden, die Auspuffabgase schädigen zudem unseren Lebensraum, und ein endlicher Rohstoff wird nutzlos verbraucht.

 [..] Mehr ist nicht unbedingt besser. In der Subprime-Krise und den darauf folgenden weltweiten Eruptionen hat sich diese Volksweisheit erst wieder bestätigt. Die Kennzahlen hatten global besten Fortschritt signalisiert (5,2 Prozent Weltwirtschaftswachstum 2007) und die bevorstehende Krise nicht einmal angedeutet.

 Was aber ist besser als mehr? Nun, man braucht es nur wörtlich zu nehmen: Besser ist, wenn mehr Gutes dabei herauskommt. [..] Der entscheidende Paradigmenwechsel steckt [..] in der Betrachtung von Nachhaltigkeit statt Wachstum und von Wohlergehen statt Wirtschaft. Nettovolksbefinden statt Bruttoinlandsprodukt.

 Tatsächlich geht es um die Urfragen des Daseins. Warum leben wir? Was wollen wir erreichen, beziehungsweise was ist unsere Bestimmung? [..] Und trotz der offenbaren Banalität des Begriffes »Glück« liegt wohl genau dort der entscheidende Punkt. Was wollte man denn anderes als glücklich sein und diejenigen, die einem am Herzen liegen, glücklich sehen? [..]

 Allein die Bedeutung von Glück lässt sich nicht einfach in Worte fassen, geschweige denn in Messwerte und Kennzahlen. Die Aufgabe ist nicht trivial. Einen zukunftsträchtigen Ersatz für das Bruttoinlandsprodukt als Leitindikator werden wir aber nur finden, wenn wir anfangen, uns gesellschaftlich und politisch damit auseinanderzusetzen.

 Laut einer repräsentativen Umfrage im Auftrag der Bertelsmann-Stiftung vom Juli 2010 meinen 88 Prozent der Deutschen, dass wir eine neue Wirtschaftsordnung brauchen, bei der der Schutz der Umwelt, der sorgsame Umgang mit Ressourcen und der soziale Ausgleich in der Gesellschaft stärker berücksichtigt werden. 61 Prozent glauben nicht, dass sie durch Wirtschaftswachstum künftig noch mehr Lebensqualität erlangen werden. Die Menschen sind also bereit, den Weg einer Reform des Wachstums­verständnisses mitzugehen.

 Zum Autor: Gerd Maas ist Inhaber einer Organisationsberatung und Regionalvorstand von „Die Familienunternehmer – ASU e.V.“, einem Interessenverband der deutschen Familienunternehmer.