Stellungnahme zur Änderung der Lehramtszugangsverordnung Sozialwissenschaften
Sehr geehrte Ministerin Gebauer,
Sehr geehrtes Ministerium für Schule und Bildung in Nordrhein-Westfalen,
wir Lehramtsstudierende der Sozialwissenschaften in NRW positionieren uns klar gegen die Umbenennung des Studiengangs „Sozialwissenschaften“ zu „Wirtschaft- Politik“ und die damit einhergehende inhaltliche Schwerpunktverschiebung. Wir verschließen uns dabei keiner generellen Debatte um die Akzentuierung und Schwerpunktsetzung in den Studiengängen, wir führen sie regelmäßig im Rahmen der Reakkreditierungsverfahren an den Universitäten. Eine umfangreiche Neuordnung oder sogar eine Umbenennung sind jedoch aus aufgeführten Gründen unverhältnismäßig, kontraproduktiv und vollständig abzulehnen.
1. Das Studium Sozialwissenschaften beinhaltet ein umfangreiches Teilstudium der Wirtschaftswissenschaften, das die Lehrkräfte befähigt, ökonomische Inhalte an allen Schulformen in vollem Umfang zu unterrichten.
Die 6,5-jährige Lehramtsausbildung berücksichtigt in einem hohen Maße die Wechselbeziehungen der drei Teildisziplinen Politikwissenschaft, Soziologie und Wirtschaftswissenschaften. Dies ermöglicht einen mehrperspektivischen Blick auf komplexe sozialwissenschaftliche und somit auch wirtschaftliche Phänomene und Problemstellungen, die bereits jetzt Gegenstand des Unterrichts an Schulen in Nordrhein-Westfalen sind.
Die Annahme aus dem Entwurf zur Änderung der Lehramtszugangsverordnung vom 24.11.2020, dass die veränderte schulische Fächerstruktur und die neuen fachlichen Inhalte einen bedarfsgerecht angepassten Zuschnitt der Lehrer:innenausbildungerfordern (1), ist nicht haltbar, weil der interdisziplinäre Lehramtsstudiengang „Sozialwissenschaften“ bereits umfassende wirtschaftliche Inhalte vermittelt.
Die Anpassungen der Kernlehrpläne enthalten außerdem keinerlei inhaltlichen Veränderungen, die durch das Studium Sozialwissenschaften nicht bedient werden können. Im Kernlehrplan des Fachs „Wirtschaft/Politik“ in der Sekundarstufe I an Gymnasien sind beispielsweise neben den politischen und soziologischen Inhaltsfeldern lediglich die Inhalte Unternehmen und Gewerkschaften sowie Handeln
als Verbraucherinnen und Verbraucher hinzugefügt worden. Es sind weiterhin soziologische Inhalte, wie unter anderem Identität und Lebensgestaltung oder soziale Sicherung im Kernlehrplan enthalten. Somit begründet die Einführung des Fachs „Wirtschaft/Politik“ an Schulen keineswegs eine Anpassung der
Lehramtsstudiengänge. (2) Insofern ist eine Umbenennung des Studiengangs nicht nachvollziehbar.
2. Nur ein integratives ökonomisches, politikwissenschaftliches und soziologisches Lehramtsstudium kann einer umfassenden Demokratiebildung und damit den Schüler:innen gerecht werden.
Es ist ein ganzheitlicher Blick auf komplexe gesellschaftliche Probleme notwendig, der nur durch den interdisziplinären Blick der Sozialwissenschaften gelehrt und gelernt werden kann. Die Bezeichnung „Wirtschaft-Politik“ benennt nur zwei der drei konkreten Bezugsdisziplinen. Hiermit wird die Gleichrangigkeit der drei Teildisziplinen unabhängig von der inhaltlichen Aufstellung infrage gestellt und der integrative Charakter ausgeblendet. Die Soziologie ist ein zentraler Bestandteil der Sozialwissenschaften und nicht nur „Zuliefererwissenschaft“ für die Wirtschafts- und Politikwissenschaft.
Nur durch den integrativen Ansatz werden Wissensbestände hinreichend vernetzt, was einem entsprechenden Blick auf die komplexe Realität gerecht wird, und einer einseitigen Problembeleuchtung vorbeugt, die zu gefährlichen Schlüssen verleitet.
3. Gerade die aktuellen öffentlichen Debatten zeigen, wie wichtig der multiperspektivische Blick der Sozialwissenschaften auf komplexe Probleme ist.
Gerade in Zeiten von Verschwörungstheorien, Populismus, Extremismus, politisch motivierter Gewalt und einer zunehmenden Spaltung der Gesellschaft wird die besondere Bedeutung der politischen Bildung deutlich, die in NRW Verfassungsrang genießt und in allen Schulen als Lehrgegenstand im Unterricht verpflichtend ist. (3)
Durch die Umbenennung und inhaltliche Neuausrichtung des Studienganges erscheint fraglich, ob die neuen Fächer den gesellschaftlichen Herausforderungen noch adäquat begegnen können. Sprache wirkt performativ und somit steht in Frage, welches Signal eine Neuprofilierung für den Stellenwert der politischen Bildung sendet.
4. Eine starke Einflussnahme auf das Studium ist keine notwendige Vorbereitung der Studierenden auf den Beruf, sondern ein Eingriff in die Gestaltungsfreiheit der Hochschulen.
Indem der Studiengang analog zum Schulfach bezeichnet wird, verliert der Unterricht in den Schulen wissenschaftlichen Bezug und Qualität. Auch für uns Studierende erwachsen daraus Nachteile. Eine namentliche Änderung des Studienfaches hat zur Folge, dass wir Studierenden die Möglichkeit verlieren, mit dem Studienabschluss andere berufliche Karrieren außerhalb der Schullaufbahn einzuschlagen. Diese Freiheit sollte uns nicht genommen werden.
Während die Sozialwissenschaften eine etablierte akademische Disziplin darstellen, ist Wirtschaft-Politik lediglich ein Schulfach in der Sekundarstufe I. Wir befürchten Probleme für Studierende, die sich beispielsweise nach dem Bachelor gegen das Lehramt entscheiden.
Leider wurden die Informationen und Pläne aufgrund von Kommunikationsproblemen nicht ausreichend transparent vermittelt. Studierende sollten keinesfalls zum Spielball von Interessenverbänden und Tagespolitik degradiert werden. Wir Studierende möchten als zentrale Akteur:innen und als eigenständige Interessenvertretung wahrgenommen werden. Dazu wünschen wir uns eine stärkere Einbeziehung in die Debatte und den Reformprozess rund um das Studienfach.
Unsere konkreten Forderungen
Wir fordern, dass sowohl die Profilierung als auch die Benennung des Studienganges „Sozialwissenschaften“ an den Universitäten als solche bestehen bleiben und das ohne einen redundanten Studiengang „Wirtschaft-Politik“. Wir fordern, dass der integrative Ansatz mit Politik, Soziologie und Wirtschaft im Schul- und Studienfach erhalten bleibt. Wir fordern, dass das Fach „Sozialwissenschaften“ an Realschulen als Wahlpflichtfach und an Gymnasien in der Sekundarstufe II bestehen bleibt. Wir fordern eine Stärkung der politischen und gesellschaftlichen Bildung neben einer kritischen multiperspektivisch ökonomischen Bildung im Schul- und Studienfach. Wir fordern, dass Klientel- und Symbolpolitik nicht auf dem Rücken der Schüler:innen, Lehrkräfte, Universitäten und uns Studierenden ausgetragen werden!
#Sowibleibt
Mit freundlichen Grüßen
Fachschaft 7.2 RWTH Aachen
Fachschaft SoWi/PoWi Universität Bielefeld
Fachschaftsabteilungsrat Soziologie & Sozialwissenschaften der Bergischen
Universität Wuppertal
Fachschaftsrat Lehramt Sozialwissenschaften Universität Duisburg-Essen
Fachschaftsrat Sozialwissenschaften Technische Universität Dortmund
FSR Lehramt der Ruhr- Universität Bochum
Studierende der Sozialwissenschaften Lehramt Köln
Fachschaft Politik und Soziologie der Universität Bonn
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1 Entwurf zur Änderung der Lehramtszugangsverordnung:
https://www.landtag.nrw.de/portal/WWW/dokumentenarchiv/Dokument/MMV17-4275.pdf2 Kernlehrplan für die Sekundarstufe II Gymnasium/Gesamtschule in Nordrhein-Westfalen:
Sozialwissenschaften und Sozialwissenschaften/Wirtschaft:
https://www.schulentwicklung.nrw.de/lehrplaene/upload/klp_SII/sw/KLP_GOSt_SoWi.pdf
3 Art. 11 Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen:
https://recht.nrw.de/lmi/owa/br_bes_detail?bes_id=3321&aufgehoben=N&det_id=462333&anw_nr=2&menu=0&sg=0
Hier können Sie die Stellungnahme als PDF downloaden.