Thema
Sozialreformen in Deutschland – Pragmatismus versus Ideologie?

Aufgaben
1. Analysieren Sie die vorliegende Rede im Hinblick auf die von Scholz vertretene Auffassung zur Gestaltung des deutschen Sozialstaates.
2. Erläutern Sie die grundlegenden Herausforderungen an den deutschen Sozialstaat.
3. Diskutieren Sie anhand sozialpolitischer Reformen bzw. Reformvorschläge, wie diesen Herausforderungen begegnet werden kann. Berücksichtigen Sie dabei auch (ökonomisch)-pragmatische Wirkungen.

Materialgrundlage
Olaf Scholz: Das Versprechen des Sozialstaats: Chancen schaffen, Teilhabe sichern, Aufstieg ermöglichen. Rede anlässlich des Symposiums “Chancengerechtigkeit als Aufgabe des Sozialstaats – Rückblick und Ausblick auf die soziale Mobilität in der Bundesrepublik Deutschland” am 26.11.2008 in Berlin. (gekürzt)
Der Redner ist Mitglied der SPD und Bundesminister für Arbeit und Soziales.

Das Versprechen des Sozialstaats: Chancen schaffen, Teilhabe sichern, Aufstieg ermöglichen.
Diese Veranstaltung kommt zur rechten Zeit – auch wenn das niemand wissen konnte, als sie geplant wurde. […] Der Kapitalismus ändert sich. Die Gesellschaft ändert sich. Die Ansprüche ändern sich. […] Deshalb ist es auch so wichtig, dem ideellen Kern des Sozialstaats auf die Spur zu kommen. Wenn wir diesen in klare und deutliche und mehrheitsfähige Worte fassen können, dann wird es uns übrigens auch leichter als in der Vergangenheit gelingen, konkrete Veränderungen an den Systemen vorzunehmen. […] [B]ei den Reformen der vergangenen Jahre ging es nicht darum, das Solidaritätsversprechen des Sozialstaates zu verändern, sondern darum, seine Idee unter veränderten Bedingungen zu erhalten. […] Hinter unserem Modell der Sozialversicherung steht der Gedanke, dass man sich mit eigenem solidarischem Handeln den Anspruch erwirbt, selbst solidarische Unterstützung einzufordern. So entstehen Loyalitäten und solidarische Beziehungen, die eine ganze Gesellschaft dicht miteinander vernetzen und zusammenhalten können.
[…] Entscheidend ist, dass […] Solidarität nicht nur Ergebnis von Nächstenliebe ist, sondern ein rechtlich abgesicherter Anspruch, der eingeklagt werden kann. Unser System der sozialen Sicherung lässt damit im Idealfall keinen Raum für Unwägbarkeiten oder Unsicherheiten. Es beruht auf Leistung und Gegenleistung und verspricht dem, der sich anstrengt, Teilhabe, und denen, die sich bemühen, sozialen Aufstieg. Dafür zu sorgen, dass diese Versprechen auch unter veränderten Rahmenbedingungen eingelöst werden können, ist eine der vordringlichen politischen Aufgaben unserer Zeit. […] Es geht um organisierte Solidarität.
[…] Und natürlich muss pragmatische Politik heute das Gebot der Nachhaltigkeit eigener Entscheidungen ernst nehmen. Das gilt insbesondere für die Sozialpolitik. [Scholz führt mehrere Beispiele sozialpolitischer Reformen an]
Im Ensemble eines […] modernen Sozialstaats rückt die Bildungspolitik an die zentrale Stelle. Bildung entscheidet über Chancen, Teilhabe und Aufstieg in einer Gesellschaft. Sie ist nicht bloß volkswirtschaftliche Rechengröße, sondern in erster Linie ein hoch individuelles Menschenrecht, die Chance zur Aufklärung und zum Ausgang aus der Unmündigkeit hin zu einem aufgeklärten Leben. […] Bereits in den ersten Lebensjahren wird maßgeblich über die Entwicklungschancen jedes einzelnen Kindes entschieden. Deshalb dürfen wir es nicht weiter zulassen, dass soziale Herkunft und das Bildungsniveau des Elternhauses den Lebensweg des Kindes bestimmen. […] Wenn wie heute 80.000 junge Leute die Schule ohne ein Schulabschluss verlassen, […] dann ist das nicht naturgegeben […], sondern dann ist das Staatsversagen.
Eine gerechte Gesellschaft braucht gute Schulen für alle. Viele Eltern machen sich Gedanken über die richtige Schule für ihr Kind. Das ist gut. Den Anforderungen der sozialen Demokrate entspricht unser Schulwesen aber erst, wenn es keinen Unterschied für das Kind bedeutet, ob sich die Eltern darüber Gedanken machen oder nicht. […]
Der Staat darf sich hier nicht unter seiner Verantwortung hinweg ducken. […] Eine soziale Gesellschaft braucht nämlich neben den Institutionen der Chancenförderung und der solidarischen Versicherung als unterstes soziales Netz auch eine Grundsicherung. Diese orientiert sich an individueller Bedürftigkeit, sichert im Einzelfall das materielle Auskommen und erhält Grundlagen der Teilhabe. Im Idealfall so nachhaltig, dass jeder Hilfebedürftige möglichst schnell wieder auf die eigenen Füße kommt. […]