Thema der Klausur: 

Die Zukunft der Europäischen Union vor dem Hintergrund der Eurokrise

Aufgabentyp:

Analyse – Darstellung – Erörtern

Aufgaben: 

  1. Analysieren Sie die Position des Autors  zur Zukunft der Europäischen Union vor dem Hintergrund der Eurokrise. Arbeiten Sie dabei auch heraus, welches Modell der europäischen Integration Ulrich favorisiert.
  2. Stellen Sie ein weiteres Modell der europäischen Integration dar. Nennen Sie dabei die Hauptargumente der Befürworter und der Kritiker dieses Modells.
  3. Erörtern Sie  unter Einbezug der Position des Autors, welches Modell in Zukunft in der EU angestrebt werden sollte. Gehen Sie dabei auch auf die demokratische Legitimation durch die Bürger in der EU ein. Berücksichtigen Sie darüber hinaus bei der Beurteilung der Modelle die Eurokrise und mögliche Lösungsansätze.

 Material:

Europa oder Untergang? Ach was! Die Vereinigten Staaten von Europa müssen nicht die Antwort auf die Schuldenkrise sein. Nationale Schuldenbremsen reichen aus. von Bernd Ulrich, in: Die Zeit, 08.09.2011

 Text:

Europa oder Untergang? Ach was!

Wie viel EU braucht Europa? Wie viel verträgt es? Hören wir hinein in die schwirrende Debatte: Euro-Bonds und europäischer Finanzminister, Wirtschaftsregierung und einheitliches Steuersystem, ein Renteneintrittsalter für alle und die Vereinigten Staaten von Europa – so viele Lösungsvorschläge sind im Gespräch, dass in Vergessenheit zu geraten droht, was eigentlich das Problem war. Und wer es hat.

Um mit der guten Nachricht zu beginnen: Die EU der 27 hat schon mal gar kein größeres Problem, sie funktioniert sogar ganz ordentlich. Und die 17 Länder der Euro-Zone haben zumindest kein Währungsproblem, denn der Euro ist recht stabil. Das einzige wirklich ernste und große Problem, das Europa zurzeit hat, sind die Schulden. Davon haben die Euro-Länder insgesamt zu viele und einzelne südliche Länder so viel zu viel, dass es richtiggehend gefährlich werden könnte.

Das Problem mit den Schulden wiederum zerfällt in zwei: 1. Wie lässt sich die akute Insolvenz einzelner Staaten oder Banken verhindern? 2. Wie kann man gewährleisten, dass die Hilfe von heute nicht morgen zu neuem Schuldenmachen verleitet?

Nun mehren sich die Stimmen, die beide Probleme zugleich lösen wollen, gewissermaßen mit einem Panthersprung zu einem künftigen, vereinigten, bundesstaatlichen Europa. Das wäre dann eine Lösung, die bei Weitem, ja um Dimensionen größer ist als das Problem. Daran schließen sich wiederum zwei Fragen: 1. Ist es weise, eine Lungenentzündung durch eine Lungentransplantation zu bekämpfen? 2. Hilft es überhaupt?

Diejenigen, die diesen Panthersprung wollen, behaupten, dass der Weg zu einem vereinten Europa alternativlos sei. Das sollten sie lieber lassen. Denn es ist demokratisch immer hochgefährlich, wenn man die Bürger für etwas gewinnen will, indem man ihnen sagt, dass sie gar nichts zu wählen haben, außer vielleicht zwischen mehr Europa und Krieg oder mehr Europa und wirtschaftlichem Untergang. […]

Zumal, und das ist das erste, das demokratische Paradox des Panthersprungs: In dem Moment, da den Menschen Europa zu viel wird, sollen sie noch viel mehr Europa wollen. Keine leichte politische Übung, könnte man sagen.

Gerade wer die größte Lösung will, sollte sich darum ernsthaft und eingehend mit der kleinsten Lösung beschäftigen. Die ginge in etwa so: Alle Euro-Länder schreiben eine Schuldengrenze in ihre jeweilige Verfassung, so wie sie Deutschland schon hat, wie sie Frankreich und Spanien gerade einführen und wie Portugal, Polen und Irland sie einführen wollen. Dann könnte jedes Land weiterhin seine Sozial- und Steuerpolitik machen, wie es ihm beliebt, es muss sich eben nur am Ende rechnen. Das Prinzip lautete: Lieber eine Regel für alle als eine Regierung für alle.

Der erste Einwand gegen diesen Vorschlag liegt nahe: Das hat doch mit dem Stabilitätspakt auch nicht geklappt. Stimmt, aber der wurde zu einer Zeit verletzt, als die Europäer noch voll und ganz in ihrer Schuldenideologie gefangen waren.

Ein zweiter Einwand lautet: Nicht in allen Ländern gibt es ein so starkes Verfassungsgericht wie hier bei uns, manche haben gar keines. Für den Fall müsste sich die EU dann tatsächlich Kontroll- und Sanktionsmechanismen schaffen, die indes schon bei der Einbringung von nationalen Haushalten greifen würden und nicht erst dann, wenn die Schulden gemacht sind.

Wäre mit 17 nationalen Schuldenbremsen garantiert, dass auch dann keine neuen Schulden aufgehäuft werden, wenn die akute Krise vorbei ist? Kann man sicher sein, dass die Italiener nicht wieder schummeln oder die Portugiesen sparsam bleiben? Nein, das kann man nicht. Es gibt allerdings auf dieser Welt keinen Mechanismus, der garantieren könnte, dass Menschen oder Staaten keinen Unfug machen. Es sei denn, man schafft die Menschen ab oder wenigstens die Staaten.

Eine solche Garantie könnte eine europäische Wirtschaftsregierung mit einheitlicher Sozial-, Steuer-, Renten- und Fiskalgesetzgebung allerdings ebenso wenig abgeben. Denn dort hätten die Südländer auch ihr Gewicht, wahrscheinlich würde der Vorsitz sogar rotieren. Eher ist es umgekehrt: Alle Schwächen der kleinen Lösung (Schuldenbremsen) hätte die große Lösung (Vereinigte Staaten von Europa) erst recht. […]

Das zweite Paradox der großen Lösung könnte man das chronologische nennen. Zurzeit mögen der ökonomische Druck und die politische Panik in Europa ja groß genug sein, um ein neues vereintes Europa anzugehen. Aber wie lange soll das vorhalten? Und wie lange soll der neuerliche Verfassungsprozess nach den Vorstellungen seiner Befürworter denn dauern? Je mehr man will, desto schwächer würde der Wille durch Zeitablauf.

Der letzte Versuch, eine europäische Verfassung zu formulieren, zog sich acht Jahre hin, er endete am 1. Dezember 2009 mit der Inkraftsetzung des Lissabonner Vertrags. Acht Jahre, um eine Vertiefung Europas zu erreichen, die, verglichen mit dem, was jetzt zur Abstimmung stehen würde, bloßes politisches Feuilleton war. Es ging um fast nichts, jetzt ginge es um fast alles, nämlich die Existenz der Nationalstaaten. Wie lange also soll das dauern? Wieder acht Jahre, oder, wenn es richtig, richtig gut läuft, nur fünf? […]

Es ist schon wahr, die Vereinigten Staaten von Europa, wenn man sie denn sofort hätte, könnten in der neuen Weltordnung besser mitmischen, als das heute der Fall ist. Aber ein mit seiner Vereinigung allzu beschäftigtes Europa könnte den Anschluss an die globale Entwicklung auch verlieren. […]