Thema der Klausur: 

Wie kommt die Europäische Wirtschafts­ und Währungsunion (EWWU) aus der Währungskrise?

Aufgabentyp:

Darstellung – Analyse – Erörtern

Aufgaben: 

  1. Stellen Sie zwei Ziele der Europäischen Zentralbank, zwei ihrer Steuerungsinstrumente sowie deren Wirkungsweise zur Geldmengensteuerung dar.
  2. Analysieren Sie die Auszüge aus der Rede von Jean­Claude Trichet im Hinblick auf die Position des Autors zur Stabilität und Stärkung der Europäischen Wirtschafts­ und Währungsunion (EWWU).
  3. Erörtern Sie, ob Trichets Vorschlag eines gemeinsamen Finanzministeriums, also einer Fiskalunion,  zur Stabilisierung der EU wünschenswert und realisierbar ist. Berücksichtigen Sie dabei jeweils ein Pro­ und ein Kontra­Argument.

Material: 

Jean­Claude Trichet: Auszüge aus der Rede anlässlich der Verleihung des Karlspreises am 02.06.2011Quelle: www.handelsblatt.de

 Text:

Rede von Jean-Claude Trichet anlässlich der Verleihung des Karlspreises am 2.6.11 (Auszüge)

[…] Das bisher Erreichte in der Wirtschafts­ und Währungsunion (WWU) wurde durch die starken Institutionen der Währungsunion ermöglicht. Um die anstehenden Herausforderungen zu bewältigen, bedarf es einer Stärkung der Institutionen der Wirtschaftsunion.

Die Wirtschafts­ und Währungsunion ist der Bereich, in dem in Europa die Integration am weitesten fortgeschritten ist. Es ist eine Union souveräner Staaten mit einem gemeinsamen Markt, einer gemeinsamen Wirtschaft und einer einheitlichen Währung. […] Die Wirtschafts­ und Währungsunion hat Wachstum gebracht. In den ersten zehn Jahren des Euro war es pro Kopf so hoch wie in den Vereinigten Staaten.

Die Union hat den Handel gefördert, im Eurogebiet, in der gesamten EU und mit der übrigen Welt. Wir sind keine „geschlossene Gesellschaft“, sondern die offenste der großen Volkswirtschaften der Welt. Sie hat auch Beschäftigung gebracht. Diese ist seit der Einführung des Euro um 14 Millionen gestiegen; in den Vereinigten Staaten waren es im selben Zeitraum 8 Millionen.

Die Wirtschafts­ und Währungsunion hat Preisstabilität gebracht. In den ersten zwölf Jahren nach der Euro­Einführung betrug die durchschnittliche jährliche Inflationsrate 1,97 %. Dieser Wert steht in vollem Einklang mit der Definition von Preisstabilität der Europäischen Zentralbank (EZB): eine Preissteigerungsrate von unter, aber nahe 2 % auf mittlere Sicht. Außerdem hat uns die Wirtschafts­ und Währungsunion monetäre Stabilität gebracht. Der Euro ist eine starke und glaubwürdige Währung. Er hat das Vertrauen unserer Mitbürger, Anleger und Sparer. Es gibt keine „Krise des Euro“. […]

In der schwierigen Situation, in der sich alle entwickelten Volkswirtschaften seit Beginn der Finanzmarktturbulenzen 2007 befanden, hat der EZB­Rat seine Gesinnung und Verantwortung unter Beweis gestellt. Unsere unerschütterliche Verpflichtung zur Preisstabilität zeugt von unserer Gesinnung. All unsere Zinsbeschlüsse – unsere „Standardmaßnahmen“ – dienen dem Ziel, Preisstabilität auf mittlere Sicht zu gewährleisten. Wie bereits erwähnt, betrug die durchschnittliche jährliche Inflationsrate in den ersten zwölf Jahren des Euro weniger als 2 %. Über einen so langen Zeitraum ist dieses Ergebnis besser als das, was in allen größeren Euroländern in den letzten 50 Jahren erreicht wurde. Hier in Aachen kann ich sagen: „Stark wie die Mark“ sollte der Euro werden, und stark wie die Mark ist er geworden. Seit der Krise mussten wir vielfach Turbulenzen und Störungen in zahlreichen Finanzmarktsegmenten bewältigen. Unsere Verantwortung haben wir unter Beweis gestellt, indem wir geldpolitische Sondermaßnahmen ergriffen haben, um zu einer angemessenen geldpolitischen Transmission in dieser außergewöhnlichen Marktlage beizutragen.

All diese „Sondermaßnahmen“, wie Refinanzierungsgeschäfte mit vollständiger Zuteilung und längerer Laufzeit oder Interventionen an den Anleihemärkten, wurden getroffen, um den Spannungen auf diesen Märkten zu entgegnen und eine bessere Transmission unserer Zinsbeschlüsse zu ermöglichen. Die EZB war in den letzten vier Jahren ein zuverlässiger und solider Anker für Stabilität in der schwierigsten Wirtschaftslage seit dem Zweiten Weltkrieg.

Ohne einen solchen Anker wäre die konjunkturelle Erholung, die seit Mai 2010 im Eurogebiet stattfindet, wahrscheinlich anders verlaufen. Das Wirtschaftswachstum von mehr als 2,5 % wäre ausgeblieben und die 350 000 neuen Arbeitsplätze wären nicht entstanden. Wann immer wir über den geldpolitischen Kurs entscheiden – die Nadel unseres Kompasses weist in Richtung Preisstabilität. […]

Betrachten wir den Euroraum heute: Länder, die sich an die Regeln der einheitlichen Währung halten, wachsen und gedeihen. Dies zeigt, dass solide Politik und eine gesunde Wirtschaft eng miteinander zusammenhängen.

Doch es gibt auch das Gegenteil: Länder, die Wortlaut oder Geist der Regeln nicht eingehalten haben, befinden sich in einer schwierigen Situation. Dies hat dann auch Rückwirkungen auf andere Länder der Wirtschafts­ und Währungsunion. Um unsolide Wirtschaftspolitik zu vermeiden, hat die Stärkung der Regeln höchste Priorität. Sie müssen verhindern, dass einzelne Länder durch ihre Politik sich selbst und dem gesamten Eurogebiet schaden. […]

Nach der weltweiten Finanzkrise stehen wir vor der Herausforderung, Länder in finanziellen Schwierigkeiten zu unterstützen. Hierfür gibt es Hilfsmechanismen, die an strikte Auflagen geknüpft und mit dem IWF abgestimmt sind. Mir ist bewusst, dass es Bedenken gibt, wohin dies führt. Man fürchtet, dass die Grenze zwischen Unterstützung und individueller Verantwortung verwischen könnte, wenn die Auflagen nicht konsequent umgesetzt werden.

Mein Vorschlag wäre, mittelfristig für Länder, die sich in Schwierigkeiten befinden, zwei Stufen vorzusehen. Hierfür wäre natürlich eine Änderung des Vertrags nötig. In der ersten Stufe kann im Rahmen eines Anpassungsprogramms finanzielle Unterstützung geleistet werden. Den Ländern soll die Möglichkeit gegeben werden, selbst Korrekturen vorzunehmen, um wieder Stabilität herzustellen. Eine solche Unterstützung liegt auch im Interesse des gesamten Eurogebiets, da so ein Übergreifen von Krisen auf andere Länder verhindert wird. […]

Wäre es zu kühn, sich eine Union vorzustellen, die nicht nur einen gemeinsamen Markt, eine gemeinsame Währung und eine gemeinsame Zentralbank hat, sondern auch ein gemeinsames Finanzministerium? […]

Erläuterungen zu den Autoren:

Jean­Claude Trichet war bis zum 31.10.2011 acht Jahre Präsident der EZB. Der jetzt auch ihm verliehene Karlspreis der Stadt Aachen wird jährlich für Verdienste um die europäische Einigung vergeben.