Thema der Klausur: Freiheit und Anpassung im Rollenhandeln

Aufgabenstellung:

  1. Stelle das Modell der sozialen Rolle dar und berücksichtige dabei besonders die strukturfunktionalistische Rollentheorie Dahrendorfs. (15 Punkte)
  2. Analysiere den vorliegenden Text in Bezug auf die Position des Autors und seine Argumentationsstruktur. (15 Punkte)
  3. Vergleiche Krappmanns Position mit der strukturfunktionalistischen Theorie.  (8 Punkte)
  4. Beschreibe kurz, was man unter Sozialisation versteht und erörtere, ob der Sozialisationsprozess für dich eher „Entpersönlichung“ (Dahrendorf) oder „Identitätsbildung“ (Krappmann) bedeutet. (12 Punkte)

TextgrundlageLothar Krappmann: Soziologische Dimensionen der Identität. Stuttgart 1971. S. 7-9

Text:

Wie kann man sich aufeinander verlassen?

Wir alle treten in verschiedenen Situationen in unterschiedlicher Weise auf. Wir verhalten uns kooperationsbereit und nachgiebig unter unseren Arbeitskollegen, pochen dagegen hartnäckig auf unser Recht, wenn unser Wagen in der Werkstatt unsachgemäß repariert wurde. Geduldig gehen wir auf alle Ansprüche unserer Kinder auch dann noch ein, wenn uns fremde längst lästig wären. In Diskussionen nehmen wir den Standpunkt unserer Gesprächspartner vorweg, indem wir etwa über politische Probleme mit einem Studentenvertreter anders sprechen als mit einem Mitglied der Regierungspartei. Gespräche und gemeinsames Handeln sind nur möglich, wenn wir uns auf unsere Partner einstellen. Aber dies findet dort seine Grenze, wo nicht mehr zu erkennen ist, wofür wir denn „wirklich“ eintreten. […]

Obwohl also gemeinsames Handeln und Kommunikation auf der einen Seite voraussetzen, daß die Partner sich in Handlungsorientierungen und Sprache einander angleichen, muß jeder auf der anderen Seite doch zugleich verdeutlichen, „wer er ist“, um den Ablauf von Zusammenkünften vorhersehbar und auf diese Weise planbar zu machen. Das Individuum steckt folglich in einem Dilemma: Wie soll es sich den anderen präsentieren, wenn es einerseits auf seine verschiedenartigen Partner eingehen muß, um mit ihnen kommunizieren und handeln zu können, andererseits sich in seiner Besonderheit darzustellen hat, um als dasselbe auch in verschiedenen Situationen erkennbar zu sein? Wir brauchen nämlich auch für die besondere Individualität, in der wir uns präsentieren wollen, die Zustimmung unserer Handlungs- und Gesprächspartner: Sie entwerfen Vorstellungen über uns, die wir nicht unberücksichtigt lassen können. „Man“ erwartet von einem Wissenschaftler rationale Argumentation, von einem Künstler Exzentrizität und Phantasie, von einem Arzt Hilfsbereitschaft und Sorgfalt. Wer gegen allgemein geteilte Vorstellungen, wie er sich als Angehöriger bestimmter Personengruppen zu verhalten hat, wiederholt verstößt, läuft Gefahr in seiner individuellen Besonderheit nicht akzeptiert zu werden. Der Versuch, den anderen individuelle Besonderheiten verständlich zu machen, muß daher auf den Erwartungen der anderen aufbauen. […] Auch hier stellt sich also eine in sich widersprüchliche Aufgabe: Wie vermag sich der einzelne als ein besonderes, von den anderen zu unterscheidendes Individuum mit einer einmaligen Biographie und ihm eigentümlichen Bedürfnissen darzustellen, wenn er sich den angesonnenen Erwartungen, die ihn von vornherein typisierend festzulegen suchen, nicht ungestraft entziehen kann? […]

Die vom Individuum für die Beteiligung an Kommunikation und gemeinsamem Handeln zu erbringende Leistung soll hier mit der Kategorie der Identität bezeichnet werden. Damit das Individuum mit anderen in Beziehungen treten kann, muß es sich in seiner Identität präsentieren; durch sie zeigt es, wer es ist. Diese Identität interpretiert das Individuum im Hinblick auf die aktuelle Situation und unter Berücksichtigung des Erwartungshorizontes seiner Partner. Identität ist nicht mit einem starren Selbstbild, das das Individuum für sich entworfen hat, zu verwechseln; vielmehr stellt sie eine immer wieder neue Verknüpfung früherer und anderer Interaktionsbeteiligungen des Individuums mit den Erwartungen und Bedürfnissen, die in der aktuellen Situation auftreten, dar. […]

Diese Identität stellt die Besonderheit des Individuums dar; denn sie zeigt auf, auf welche besondere Weise das Individuum in verschiedenartigen Situationen eine Balance zwischen widersprüchlichen Erwartungen, zwischen den Anforderungen der anderen und eigenen Bedürfnissen sowie zwischen dem Verlangen nach Darstellung dessen, worin es sich von anderen unterschiedet, und der Notwendigkeit, die Anerkennung der anderen für seine Identität zu finden, gehalten hat.