Thema: Wie sind wir geworden, wie wir sind? – Die Anlage-Umwelt-Debatte

 Aufgabenstellung:

  1. Analysiere den Text, indem du die Position des Autors und seine Argumentationsstruktur herausarbeitest. Beziehe dabei auch mit ein, wie der Autor Leistungsunterschiede zwischen schwarzen und weißen Kindern erklärt.
  2. In der Anlage-Umwelt-Debatte gibt es zwei grundlegende Erklärungsansätze, die sich gegenüber stehen. Stelle beide Ansätze vergleichend gegenüber und beschreibe jeweils ein Argument für beide Seiten.
  3. Um Kinder aus bildungsfernen Schichten besser zu fördern, wird von einigen Politikern die Forderung nach verpflichtenden Ganztagsschulen und einer Kindergartenpflicht ab dem zweiten Lebensjahr erhoben. Nimm Stellung zu diesem Vorschlag. Beziehe dich dabei auf den Text und verwende auch eigene Argumente.

Textgrundlage: Jörg Blech: Fakten zu Sarrazins Thesen: Die Mär von der vererbten Dummheit. Spiegel vom 30.08.2010

 Text:

Fakten zu Sarrazins Thesen: Die Mär von der vererbten Dummheit

[…] „Wir werden auf natürlichem Wege durchschnittlich dümmer“, sagte der Bundesbank-Vorstand Thilo Sarrazin auf einer Veranstaltung im Juni. Einwanderer “aus der Türkei, dem Nahen und Mittleren Osten und Afrika” wiesen weniger Bildung auf als Einwanderer aus anderen Ländern – und sie bekämen mehr Kinder als Deutsche. Es gebe “eine unterschiedliche Vermehrung von Bevölkerungsgruppen mit unterschiedlicher Intelligenz”, sagte der frühere Finanzsenator Berlins […]

Die Theorie der angeblich unterschiedlich intelligenten Ethnien ist Jahrzehnte alt und wird immer wieder neu aufgetischt. 1994 etwa legten der Psychologe Richard Herrnstein und der Politologe Charles Murray das Buch “The Bell Curve” vor, in dem sie fordern, amerikanischen Studenten mit dunkler Hautfarbe den Zugang zu Universitäten nicht weiter zu erleichtern: Aufgrund ihrer Erbanlagen seien Schwarze nun einmal weniger intelligent als Weiße. 25 Jahre zuvor hatte der Psychologe Arthur Jensen von der University of California in Berkeley einen Aufsatz veröffentlicht, der Leistungsunterschiede in den Schulen als erbbedingt darstellte: Die meisten minderbegabten Kinder hätten eine dunkle Hautfarbe, deshalb sei mangelnde Intelligenz ein Merkmal ihrer Ethnie. Aus diesem Grund würde es auch nichts bringen, Kinder aus sozial benachteiligten Minderheiten besonders zu fördern. Zwar zeigten farbige US- Amerikaner im statistischen Durchschnitt tatsächlich niedrigere Leistungen in Intelligenztests , doch  diese schlechteren Ergebnisse sind gerade kein Schicksal der Gene. Was sich hier tatsächlich zeigt, ist der lange Schatten der Sklaverei.

Zu Zeiten der Sklaverei hat die US-Gesellschaft Menschen mit dunkler Hautfarbe Schulausbildung und den Zugang zu Büchern verweigert. Viele Generationen wurden von der weißen Bevölkerungsmehrheit systematisch von der Bildung ausgeschlossen. Die offizielle Abschaffung der Sklaverei änderte daran wenig: Die Kinder mit dunkler Hautfarbe gingen auf miserabel ausgestattete Schulen für Schwarze. Wenig verwunderlich war es deshalb, dass Kinder mit dunkler Hautfarbe benachteiligt waren, als sie in den fünfziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts auf jene öffentlichen Schulen kamen, die bis dahin weißen Kindern vorbehalten waren.[…]

Ausgerechnet im Westdeutschland der Nachkriegszeit hat ein natürliches Experiment eindrucksvoll gezeigt, dass die Hautfarbe keinen Einfluss auf die Intelligenz hat. Etliche Soldaten der US-Armee haben Nachwuchs mit deutschen Frauen gezeugt: die damals so genannten Besatzungskinder. Einige dieser Kinder haben einen hellhäutigen Amerikaner zum Vater, andere einen dunkelhäutigen. Die Kinder wuchsen in Deutschland auf und konnten die gleichen Schulen besuchen.

Im Psychologischen Institut der Universität Hamburg war es Klaus Eyferth, der darin eine einmalige Chance sah. Denn anders als in den USA konnte man in Deutschland davon ausgehen, dass sich farbige und weiße Besatzungskinder “in allen Merkmalen gleichen, die außer der Farbigkeit deren Entwicklung wahrscheinlich beeinflussen (uneheliche Geburt, sozialer Status etc.).” Die Wortwahl von 1961 mag heute befremdlich wirken, doch seine Studie ging Psychologe Eyferth unvoreingenommen an. 264 Kinder und Jugendliche ließ er einen Intelligenztest absolvieren: 181 der Prüflinge waren farbig, 83 waren weiß. Das Ergebnis: Einerseits schnitten Jungen mit dunkler Hautfarbe etwas schlechter ab als die Knaben mit heller Haut. Andererseits erzielten die Mädchen mit dunkler Hautfarbe etwas bessere Ergebnisse als die hellhäutigen Mädchen. Zusammengenommen haben die an den Zehnjährigen durchgeführten Intelligenztests ergeben: Schüler mit einem hellhäutigen Vater lagen bei einem durchschnittlichen IQ von 97; jene mit einem dunkelhäutigen Vater kamen auf einen Wert von 96,5 – praktisch gibt es also keinen Unterschied.

[…] Wie wichtig äußeren Reize für die Entfaltung des Gehirns sind, haben  auch Psychologen […]von der Georgetown University in Washington dokumentiert. Es ging um Kinder, deren leibliche Eltern gesund waren, aber äußerst arm und schlecht ausgebildet. In einem Projekt kamen die Kinder im Alter von sechs Wochen tagsüber in eine besondere Krippe, in der es für nur drei Kinder einen eigenen Lehrer gab und in der sie besonders gefördert wurden. [Diese Kinder hatten also, sehr viel bessere Lernbedingungen, als sie in normalen Bildungseinrichtungen jemals haben würden!] Nach drei Jahren war der IQ dieser Kinder um etwa 13 Punkte höher als bei Kindern gleichen Alters und gleicher sozialer Schicht, die nicht in den Genuss der Förderung gekommen waren.