Thema der Klausur: 

Sozialer Wandel privater Lebensformen

Aufgabentyp:

Darstellung – Analyse – Stellung nehmen

Aufgaben: 

  1. Stellen Sie drei Modelle geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung dar.
  2. Analysieren Sie den Vortrag im Hinblick auf die Position der Rednerin zur Entwicklung der Familie in Deutschland. Arbeiten Sie heraus, welches der drei Modelle geschlechtsspezifischer Arbeitsteilung die Rednerin für das Zukunftsfähigste hält und belegen Sie dieses am Text.
  3.  Nehmen Sie unter Berücksichtigung der Position der Rednerin Stellung zu den im Text formulierten Forderungen an die deutschen Arbeitgeber und die Politik zur Verbesserung der Rahmenbedingungen für Familien. Berücksichtigen Sie dabei zwei Pro­ und zwei Kontra­Argumente.

 Material: 

Göring­Eckardt, Katrin: Familie heute – leichter gesagt als getan. Vortrag auf Einladung der Evangelischen Kirchgemeinden Ohrdruf­Luisenthal/Thüringen am 01.04.2011 URL: http://goering­eckardt.de/detail/nachricht/familie­heute­leichter­gesagt­als­getan.html (Zugriff am 28.11.2011)

 Text:

Familie heute – leichter gesagt als getan

Sehr geehrter Herr Pfarrer Heinke […], sehr geehrte Mitglieder der Evangelischen Kirchgemeinden Ohrdruf und Luisenthal, sehr geehrte Gäste,

Wir alle haben, wir alle sind Familie. Egal ob ganz nah oder weit entfernt, ob biologisch verwandt oder im Herzen verbunden, Familie ist aus unserer Gesellschaft nicht wegzudenken. Familie ist vielmehr Grundpfeiler unseres täglichen Zusammenlebens. […]

Doch nicht nur heute, aber in einer pluralen Gesellschaft umso mehr, hat Familie viele Gesichter und ihr gesellschaftlicher Wert lässt sich damit nur ungenau über die starre Definition amtlicher Statistiken erfassen: Denn es gibt schließlich nicht nur eine Familienform, sondern undenkbar viele verschiedene Arten familiären Zusammenlebens. […]

Mit einem Blick auf die meist trockenen Zahlen zur Familienentwicklung erscheint Familie heute immer mehr an Bedeutung und Attraktivität zu verlieren. Diese oft geäußerte Annahme wird nicht zuletzt begleitet und dramatisiert durch die Prognosen und das Schreckgespenst des demografischen Wandels, der Thüringen bekanntlich vor besondere Herausforderungen stellt.

Es ist wahr, rein statistisch gesehen befinden sich die traditionellen Merkmale familiären Zusammenlebens wie Eheschließung und deren Beständigkeit sowie Geburtenraten tatsächlich auf dem Rückzug. Nur noch etwa 40 Prozent der Thüringer Neugeborenen kommen beispielsweise als eheliche Kinder zur Welt, dagegen waren es 1990 noch rund 68 Prozent. Die Geburtenraten befinden sich nicht nur hier zu Lande sondern bundesweit auf einem niedrigen Niveau. […]

Ob mit diesen fast täglich neu veröffentlichten Zahlen aber auch ein Bedeutungsverlust der Familie selbst einhergeht, scheint mir weniger eine Frage statistischer Interpretationen als der Kompensation durch neue Formen des Zusammenlebens und deren Bedeutung für unser gesellschaftliches Miteinander. Denn demgegenüber beobachten wir seit Jahrzehnten eine Pluralisierung der Lebensformen und zunehmende Ausweitung nichtehelicher Familiengründungen, der Ein­Eltern­Familien und den Trend hin zu mehr aber kleineren Haushalten. Familie heute ist damit offener, flexibler und angesichts der heutigen und zukünftig zu erwartenden Geburtenraten in ihrem Kern sicher auch kleiner, aber damit keinesfalls weniger bedeutend als früher. […]

Hiermit eng verbunden berühren diese Entwicklungen auch das Binnenverhältnis der Familienmitglieder sowie ihre Rollenbilder und Hierarchien, die sich in einem stetigen Wandel befinden. Denn Familie heißt nicht mehr nur Blutsverwandtschaft, sondern Wahlfreiheit und ein bereicherndes Nebeneinander selbst gewählter Familienformen sind die Folge der Auflösung traditioneller Bindungen und neuer Freiheiten. Dafür verantwortlich zeichnen sich nicht nur die Emanzipation […] sondern auch äußere Umstände und Notwendigkeiten familiärer Anpassung. Ausbildungszeiten werden länger und die Familiengründung damit immer weiter in spätere Lebensabschnitte verlagert, darüber hinaus erfordert die Entwicklung unserer Gesellschaft hin zu einer wissensbasierten Dienstleistungsgesellschaft flexiblere Arbeitszeiten, eine ausreichende Infrastruktur zur Kinderbetreuung und eine gleichberechtigte Aufteilung der Betreuungszeiten.

Diese Flexibilisierung familiärer Lebensstile hat dabei nicht nur Auswirkungen auf die Beständigkeit und geschlechtsspezifische Rollenbilder, sondern bringt auch ganz neue Vorteile für die alltägliche Familienorganisation und gegenseitige Fürsorge mit sich. […]

Doch Familie umfasst für viele in ihrer traditionellen, bürgerlichen Form noch immer das Idealbild eines berufstätigen, hauptverdienenden Vaters und ein Frauenbild, das hauptsächlich auf die Kindererziehung reduziert bleibt. Doch dieses vermeintliche Idealbild ist nicht mehr als eine bürgerliche Erfindung und Ausdruck einer Zeit, in der Familie mehr durch wirtschaftliche Notwendigkeiten und unhinterfragte Rollenklischees als durch soziale Kontakte geprägt wurde. Der heutigen Realität kann dies jedenfalls nicht gerecht werden.

Was wir heute trotz aller wirtschaftlichen, politischen und gesellschaftlichen Gleichstellungshindernisse beobachten können, ist ein stetiger Wandel traditioneller Rollenbilder in Familie und Beruf hin zu mehr gleichberechtigter Teilhabe und Aufgabenverteilung. Mütter sind durch individuelle, aber nicht zuletzt auch finanzielle Bedürfnisse immer mehr im Berufsleben gefragt, sind gut ausgebildet und können, ja wollen Karriere machen. Väter dagegen ziehen sich immer öfter auch für Erziehungszeiten zurück und nehmen sich damit eine Auszeit vom Alleinernährermodell. […]

All diese Beobachtungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass es im Alltag noch immer vor allem die Frauen sind, die die Familie managen: Hausaufgaben kontrollieren, für das Essen sorgen und Wäsche machen und das Grillfest des Vereins organisieren, die Geburtstagsgeschenke besorgen – und das in vielen Fällen parallel zur eigenen Berufstätigkeit. Zeit wird da zur Mangelware. Und auch jenseits der besonders zeitintensiven Betreuung der (Klein)kinder, sind es wieder die Frauen, die Familienarbeit leisten und dafür berufliche Pläne zurückstellen: sei es für die Pflege von Angehörigen oder dann, wenn die Oma die Betreuung der Enkel übernimmt. […]

Junge Frauen, aber auch Männer, wollen sich nicht nur mehr für oder gegen Familie und Beruf entscheiden müssen. Sie wollen beides und das möglichst gleichberechtigt. Sie wollen Wahlfreiheit und kein entweder/oder von Familie, funktionierender Partnerschaft und beruflicher Karriere. Diesen Weg zu eröffnen ist wesentliche Aufgabe von Familienpolitik in unserer Zeit. […]

Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist und bleibt damit noch immer eine der zentralen Herausforderungen für eine moderne und zukunftsorientierte Familienpolitik. Gute Familienpolitik muss die Faktoren Geld, Zeit und unterstützende Infrastruktur berücksichtigen, denn jene bilden die entscheidenden Rahmenbedingungen für Familien und eröffnen einen ganzheitlichen Ansatz für eine geschlechtergerechte Familienpolitik. […] Dazu gehört ein Sinneswandel bei Arbeitgebern und ein flexibles, familienfreundliches Zeitmanagement ebenso wie das unter anderem in den Niederlanden erfolgreich praktizierte Rückkehrrecht auf Vollzeit. […]

Familie heute – das ist häufig leichter gesagt als getan. In diesen Zeiten, in denen vieles unübersichtlich ist und wir räumlich und gedanklich viele Grenzen überschreiten, ist die Familie gleichbleibend wichtig als ein Ort, wo Halt und Geborgenheit, Sinn und Stabilität erfahren werden. Wir sind so frei unser Leben zu gestalten wie nie zuvor. Wenn immer alles möglich scheint, ist diese Freiheit jedoch mitunter eine Zumutung und überfordert uns. Familie entlastet auch ein wenig davon, sich permanent selbst erfinden zu müssen und das möglichst kreativ. Sie entlastet davon, ständig den eigenen Weg wählen zu müssen, weil alles offen ist und nichts verbindlich. Gleichzeitig stellt der Anspruch, immer offen, mobil und flexibel zu sein, gerade Familien vor große Herausforderungen und nicht selten vor Zerreißproben. Und deshalb müssen die Rahmenbedingungen verbessert werden, dafür ist die Politik mitverantwortlich. […]

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit!

 Zur Autorin: Katrin Göring­Eckardt (geb. 1966) ist Parteivorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen. Seit 2009 ist sie zugleich Präses (= Vorsitzende) der Synode der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD).