Thema der Klausur:
Welche Lösungen gibt es für das Welthungerproblem?
Aufgabenart:
Erläutern – Analysieren – Erörtern
Aufgaben:
- Erläutern Sie zwei entwicklungspolitische Strategien. Gehen Sie dabei auf Zielsetzungen, Instrumente und Probleme/ Grenzen dieses Konzeptes ein.
- Analysieren Sie die Position des Autors zu der Verantwortlichkeit verschiedener Akteure für das Welthungerproblem.
- Erörtern Sie die Vorschläge und Kritik des Autors aus der Perspektive der Entwicklungs- und der Industrieländern. Berücksichtigen Sie dabei jeweils soziale und wirtschaftliche Faktoren.
Materialgrundlage:
«Die Uno hat in dieser Krise bisher vollkommen versagt!», Interview mit Jean Ziegler, in: „Globe“ Magazin der Universität Zürich, Ausgabe 8/2008, S. 31-32.
Text:
«Die Uno hat in dieser Krise bisher vollkommen versagt!»
Herr Ziegler, Sie haben als UN-Sonderberichterstatter in der Vergangenheit immer wieder auf die Hungertragödie aufmerksam gemacht. Seit April beschäftigt sich die Weltöffentlichkeit mit der «Nahrungsmittelkrise». Inwiefern weicht diese überhaupt von der seit Jahrzehnten bestehenden Situation ab?
Heute erleben wir eine doppelte Tragödie: Der strukturelle Hunger, an welchem letztes Jahr mehr als sechs Millionen Kinder starben, weitet sich weiter aus. Hinzu kommt nun noch die Preisexplosion bei den Grundnahrungsmitteln. Darunter leidet besonders eine urbane Bevölkerungsschicht, welche bis zu 90 Prozent ihres Einkommens für Nahrungsmittel ausgibt. Anders als die Bauern, haben sie keine Möglichkeit zur Selbstversorgung und sind von den Marktpreisen abhängig. Gemäß Weltbank-Statistik leben heute über 2,2 Milliarden Menschen unter dem Existenzminimum. Viele davon sind von der Preisexplosion ganz besonders betroffen.
Die Uno hat am 28. April eine Task Force für die Bekämpfung der Nahrungsmittelkrise erstellt. Die Weltbank, der Internationale Währungsfonds IWF und die Welthandelsorganisation WTO bilden einen festen Bestandteil dieser Gruppe. Sind dies nicht genau diejenigen Organisationen, die Sie seit Jahren für den Welthunger verantwortlich machen?
Die Uno hat in der aktuellen Krise bisher vollkommen versagt! Sie ist gelähmt, weil sie von Konzerninteressen durchsetzt ist. Acht internationale Unternehmen, so genannte Grain-Merchants, kontrollieren über 70 Prozent des gesamten Welthandels von Grundnahrungsmitteln. Andere Konzerne beherrschen den Saatgutmarkt. Damit ist der Nahrungsmittelmarkt heute auf allen Ebenen kartellisiert. Die jeweiligen Unternehmensinteressen fließen über die Mitgliedstaaten direkt in die Uno-Gremien. Die Task-Force ist ein Witz!
In diesem Zusammenhang prangerten Sie im letzten UN-Rapport die «Schizophrenie des Uno-Systems» an.
Eine absolute Schizophrenie! UN-Organisationen wie die UNICEF oder das World Food Programme kämpfen gegen den Hunger und die weitere Verschuldung von Drittweltstaaten. Gleichzeitig zwingen der IWF und die WTO den Entwicklungsländern Strukturanpassungsprogramme auf, welche ausschließlich die Exportlandwirtschaft und damit den Anbau von Baumwolle, Zuckerrohr und Kaffee fördern. Hier sind wir beim Kern der Tragödie, genau deshalb kann das Recht auf Nahrung nicht umgesetzt werden.
Sie stehen für die Souveränität von Entwicklungsländern über ihre Agrarpolitik ein. Staaten wie die Schweiz, Deutschland und Norwegen unterstützen diesen Ansatz. Was erhoffen Sie sich davon?
«Food sovereignty» bedeutet, dass Entwicklungsländer ein Primärrecht besitzen, jede internationale Reform abzulehnen, welche die Souveränität über die Ernährungssicherheit für das eigene Volk gefährden. Verheerende, vom IWF diktierte Strukturanpassungsprogramme könnten damit verhindert werden.
Bedeutet das eine Abkehr vom Welthandel und ein Rückzug in die Selbstversorgung?
Nicht unbedingt und nicht ausschließlich. Die Schweiz zum Beispiel ist sehr nahe am Ideal der «food sovereignty», indem sie einen Teil der Nahrungsmittel zum Abdecken der Nachfrage selber produziert und zudem die finanziellen Mittel besitzt, um komplementäre Getreideimporte zu tätigen.
Die Wirtschafts- und Handelsminister der WTO-Mitgliedstaaten fordern aber einen besseren Marktzugang für Entwicklungsländer durch Marktliberalisierungen und den Abbau von Subventionen. Die Nahrungsmittelsicherheit darf nicht dem freien Handel überlassen werden, sondern muss vom Staat garantiert werden! Das heißt, ein Land muss das Recht besitzen, seinen Markt zu schützen – sei es, indem es Zollmauern auf-baut oder anderweitig die Preise kontrolliert. Nur so können sich Drittweltstaaten gegen das Preisdumping von Industrienationen wehren, deren Agrarmärkte staatlich stark subventioniert sind. Es kann doch nicht sein, dass man auf dem Markt von Dakar oder Abidjan importiertes Gemüse aus Frankreich oder Italien zur Hälfte des Preises der einheimischen Produkte kaufen kann!
Sie haben sich also gefreut, als die letzte WTO-Ministerkonferenz Ende Juli in Genf ohne Ergebnisse zu Ende ging?
Gott sei Dank ist diese Runde geplatzt! Ich bin der festen Überzeugung, dass der Agrarsektor der Kontrolle der WTO entzogen werden muss. Denn was ist wichtiger: Die Menschen zu ernähren und am Leben zu erhalten oder die durch Agrarprodukte erzielten Profite weiter zu maximieren?
Wie sieht Ihre Alternative zum freien Weltmarkt aus?
Der Agrarsektor muss nach Kriterien der Menschenrechte organisiert werden. Grundnahrungsmittel sind öffentliche Güter und dürfen nicht den Börsenspekulationen unterliegen.
Inwiefern sind die Spekulanten an der heutigen Krise mitschuldig?
Weltbank-Ökonomen gehen davon aus, dass 37 Prozent der Preisexplosion durch Spekulationen verursacht wurden. Nach den Riesenverlusten auf den Finanzmärkten im letzten Jahr investierten viele Spekulanten ihre Gelder in Optionen und Futures auf Nahrungsmittel-Rohstoffen. Auch Schweizer Banken machen dafür Werbung. Um diese Spekulationsspirale zu brechen, braucht es ein absolutes Verbot von Termingeschäften auf Agrarprodukten!
Es gibt aber auch Ökonomen, welche die momentane Krise vor allem mit den Ernte-ausfällen in Australien und den neuen Essgewohnheiten in China und Indien erklären.
Nein! […] Natürlich tragen diese Faktoren noch zusätzlich zur heutigen Tragödie bei, die wahren Ursachen liegen aber woanders. Die Strukturanpassungsprogramme des IWF und die Politik der Weltbank förderten über Jahre hinweg landwirtschaftliche Exportgüter wie Baumwolle, Kaffe und Zuckerrohr. Dadurch wurde die Nahrungsmittelproduktion für den Eigenbedarf vernachlässigt und die Abhängigkeit vom Ausland stetig erhöht. Nehmen wir Mali: Das Land exportierte letztes Jahr 380 000 Tonnen Baumwolle und importierte gleichzeitig den Hauptteil ihrer Grundnahrungsmittel. Der IWF und die Weltbank müssen ihr Paradigma sofort ändern und unbedingt in die Subsistenz-Landwirtschaft und die lokale Produktion investieren.
Welche weiteren Maßnahmen müssen gegen die momentane Krise ergriffen werden?
Ich verlangte bereits letztes Jahr ein Moratorium für Agrartreibstoffe von mindestens fünf Jahren. Für eine 50-Liter-Tankfüllung braucht es 358 Kilogramm Mais. Mit dieser Menge kann ein Kind in Zambia ein Jahr lang überleben. Die westlichen Mobilitätsbedürfnisse werden somit durch die Unterernährung in Afrika bezahlt – das Verhalten des Westens in dieser Frage ist absolut skandalös!
Weshalb gerade ein Moratorium von fünf Jahren?
Weil es durchaus möglich ist, dass Wissenschaftler bis zu diesem Zeitpunkt Methoden entwickelt haben, mit welchen Biotreibstoffe ebenso kostengünstig aus nicht essbaren Pflanzen hergestellt werden können. Damit wäre das Problem gelöst.
Forscher sind momentan daran, einen genetisch modifizierten Maniok zu entwickeln, der wesentlich mehr Proteine und Vitamin A enthält als jede bisher bekannte Sorte. Wie beurteilen Sie die Chancen solcher Projekte im Kampf gegen den Welthunger?
Die Annahme, dass genetisch veränderte Nahrungsmittel für diesen Kampf nötig sind, ist schlicht falsch! Nach dem letzten World Food Report der FAO könnte die heutige Landwirtschaft zwölf Milliarden Menschen ernähren – doppelt so viele also, wie heute auf unserem Planeten leben. Die Argumentation für die Gentechnik über den Hunger in der dritten Welt ist eine Verblödungsstrategie der multinationalen Konzerne!
Kleinbauern an der Elfenbeinküste profitieren momentan von den steigenden Lebensmittelpreisen – endlich sind ihre Produkte wieder etwas wert. Ist die momentane Krise langfristig auch eine Chance für Entwicklungsländer?
Solange die Industrienationen ihre Agrarsubventionen nicht abbauen, geht das Preisdumping weiter – solange haben die Bauern in der südlichen Hemisphäre keinen fairen Markt für ihre Produkte; solange bringt ihnen die Preissteigerung gar nichts. […]
Zur Person:
Jean Ziegler hat während seiner achtjährigen Tätigkeit als UN-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung einen Großteil der aktuellen Krisenregionen besucht. Im März 2008 wurde Ziegler in den beratenden Ausschuss des Menschenrechtrats gewählt. Der emeritierte Soziologieprofessor [Professor im Ruhestand] und Sozialist ist Autor mehrerer kontroverser Bücher. In einem Werk «Das Imperium der Schande» macht er die Schuldnerpolitik des Internationalen Währungsfonds, die Profitmaximierung von multinationalen Konzernen und korrupte Regime für die globale Armut verantwortlich. Sein neustes Buch heißt „Wir lassen sie verhungern. Die Massenvernichtung in der Dritten Welt“ und erschien im September 2012.