06. September 2019

Offener Brief an Schul- und Bildungsministerin Yvonne Gebauer 

Neuer Lehrplan Wirtschaft-Politik tritt in Kraft: Einseitige ökonomische Bildung und mangelhafte Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Herausforderungen!

Sehr geehrte Frau Ministerin Gebauer,

zum Schuljahr 2019/20 ist in Nordrhein-Westfalen der von Eltern- und Fachverbänden breit kritisierte Lehrplan Wirtschaft-Politik für die Sekundarstufe I an Gymnasien ohne nennenswerte Änderungen in Kraft getreten. Die Kritik von Eltern- und Fachverbänden am Kernlehrplan, die im Rahmen der Verbändebeteiligung geübt wurde, hat nur zu marginalen, nicht aber zu den notwendigen substanziellen Änderungen geführt. Es wurden vornehmlich Rechtschreibfehler korrigiert sowie leichte sprachliche Überarbeitungen[1]vorgenommen. Zumindest der zuvor nicht berücksichtigte Aspekt von „Rechts- und Linksextremismus“ wurde als Kompetenzziel (S. 27) aufgenommen, nicht aber als Inhaltsfeld. Dass die fundierten Einlassungen und wissenschaftlich untermauerten konstruktiven Vorschlägen der Eltern- und Fachverbände im Ministerium für Schule und Bildung NRW auf wenig Resonanz stoßen wird, war schon an den ersten Reaktionen des MSB erkennbar. Die Kritik kanzelte Staatssekretär Richter als „oberflächlich und nicht zielführend“ ab (WAZ vom 5.4.2019).

Der neue Lehrplan fällt qualitativ weit hinter den alten Lehrplan zurück.

 

Wir kritisieren insbesondere die folgenden drei Punkte:

  1. Wissenschaftlicher Diskussionsstand ignoriert – Beutelsbacher Konsens unterlaufen

Die ökonomischen Anteile im KLP sind nicht mit dem Beutelsbacher Konsens vereinbar. Mit der einseitigen Ausrichtung auf die neoklassische Theorie verstößt der Lehrplan gegen das Kontroversitätsgebot und gegen das Gebot der Wissenschaftsorientierung. Alternativen zur neoklassischen Theorie wie die der pluralen Ökonomik, die in den Wirtschaftswissenschaften spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise international breit diskutiert werden, finden keine Berücksichtigung und werden den Schülerinnen und Schülern vorenthalten. Der Kernlehrplan findet nicht den Anschluss an den wissenschaftlichen Diskussionsstand.

  1. Verkürzung der politischen Bildung

Drängende gesellschaftliche Herausforderungen wie die Klimakrise, ein sich vertiefender Rechtspopulismus und -extremismus insgesamt werden im Kernlehrplan unzureichend berücksichtigt. Angesichts der Gefährdungen für die Demokratie, die sich aus dem Erstarken des Rechtsextremismus zunehmend abzeichnen, ist es nicht vertretbar, dass für die Aufklärung über Rechtsextremismus und Antisemitismus kein eigenes Inhaltsfeld vorgesehen ist. Stattdessen sollen sich die Schülerinnen und Schüler in der Mittelstufe intensiv mit betriebswirtschaftlichen Fragen wie „Beschaffung, Produktion und Absatz im betrieblichen Handeln“ (Kernlehrplan: Inhaltsfeld 6, S. 29) auseinandersetzen. Der Kernlehrplan ignoriert hiermit die vielfach geäußerten gesellschaftlichen Orientierungsbedürfnisse der Schülerinnen und Schüler. Während die politisch-demokratische Bildung an Schulen – abgesehen von autoritären Staaten – weltweit ausgebaut wird, werden im Kernlehrplan „Wirtschaft-Politik“ politische und gesellschaftliche Inhalte zu Gunsten ökonomischer Inhalte auf „Grundlagen“ (S. 7) reduziert. Den Schülerinnen und Schülern wird es somit massiv erschwert, sich als politische Menschen zu entdecken, gesellschaftliche Herausforderungen zu erfassen, demokratische Handlungsfähigkeit zu entwickeln und gesellschaftliche Orientierung zu gewinnen.

  1. Korrektiv der Verbändebeteiligung vernachlässigt und vertan

Verbändeanhörungen sind ein bedeutsames demokratisch-partizipatives Instrument. Die Verbändeanhörung zum Kernlehrplan Wirtschaft-Politik hat ein weiteres Mal gezeigt, wie demokratische Verfahren politisch zunehmend ausgehöhlt werden. Die Landesregierung hat die Chance vertan, die Diskussion des Kernlehrplans zu nutzen, um eine breite gesellschaftliche Debatte über die Bedeutung der Demokratie, über Normen und Werte des Zusammenlebens und über Zukunftsfragen zu führen. Stattdessen wurde die Verbändeanhörung technokratisch abgewickelt. In Lehrplänen wird politisch entschieden, was mehrere Millionen Schülerinnen und Schüler lernen sollen. Die in den Lehrplänen definierten Bildungsziele und Inhalte haben maßgeblich Einfluss auf die Weltsicht der nachwachsenden Generation. Angesichts ihrer gesellschaftlichen Bedeutung irritiert die Intransparenz, die bei der Konzeption des Lehrplans „Wirtschaft-Politik“ praktiziert wurde.

 

Wir fordern für die Lehrplanentwicklung:

  1. Demokratische Beteiligungsverfahren müssen ernstgenommen werden. Insbesondere bei Lehrplänen für den gesellschaftswissenschaftlichen Lernbereich sollen Partizipationsformate zur Geltung gelangen, die eine breite gesellschaftliche Beteiligung ermöglichen.
  2. Die Einführung eines verpflichtenden Lobbyregisters, in dem Gespräche, Stellungnahmen und Konzepte von bildungspolitischen oder -administrativen Vertreterinnen und Vertretern mit Lobbyisten abgebildet werden.
  3. Es muss Transparenz bezüglich der Zusammensetzung von Lehrplankommissionen und beratenden Mitgliedern hergestellt werden.
  4. Die Berufung von Vertreterinnen und Vertretern aus den wissenschaftlichen Fachverbänden, den einschlägigen Lehrerfachverbänden sowie der Eltern- und Schülerverbände in die Lehrplankommissionen muss sichergestellt werden.
  5. Sämtliche Stellungnahmen müssen in die Verbändeanhörungen eingehen und veröffentlicht werden, um eine demokratische Meinungsbildung zu ermöglichen.
  6. Es muss zu einer synoptischen Darstellung der im Verbändebeteiligungsverfahren vorgenommenen Veränderung durch das MSB und eine entsprechende Begründung für die Ablehnungen von Vorschlägen erfolgen, die veröffentlich wird.

Die derzeit in Arbeit befindlichen Lehrpläne der anderen Schulformen der Sek I sollten mit diesen Prämissen erstellt werden und die hoffentlich verbesserten Inhalte kurzfristig auch den Gymnasien in angepasster Weise zugutekommen.

 

Mit freundlichen Grüßen

Prof. Dr. Bettina Zurstrassen, DVPB NW, Marcel Bayer (Initiatoren)

Dr. Matthias Burchardt, GBW

Prof. Dr. Tim Engartner, GSÖBW

Jutta Löchner, Landeselternschaft der Gymnasien in NRW e.V.

 

_____________

Fußnote:

[1]Beispiele sind: „nachhaltig“ wird zu „nachhaltigkeitsorientiert“ (S. 8); „methodisch-didaktisch“ wird zu „didaktisch-methodisch“ (S. 11); „ökonomische Probleme“ werden zu „ökonomische Sachverhalte“ (S. 12)

 

Kontaktemailadressen:

Marcel.Beyer@uni-bielefeld.de

M.Burchardt@uni-koeln.de

kontakt@soziooekonomie-bildung.eu

Jutta.Loechner@le-gymnasien-nrw.de

bettina.zurstrassen@dvpb-nw.de