Thema

Deutschland – eine Klassengesellschaft?

Aufgaben

1. Analysieren Sie die Auffassung Wehlers zur deutschen Sozialstruktur.

2. Stellen Sie an einem geeigneten Beispiel die Funktionsweise sozialstruktureller Reproduktionsmechanis­men innerhalb der deutschen Gesellschaft dar.

3. Erörtern Sie – bezugnehmend auf die Erkenntnisse der vorangestellten Aufgabenteile ergänzt durch aktuelle empirische Befunde – die These, dass Deutschland eine Klassengesellschaft sei.

Materialgrundlage

Hans-Ulrich Wehler: Verschämte Klassengesellschaft. In: Die Zeit vom 23.11.07 [Auszug]
Der Autor ist Historiker und emeritierter Professor für Gesellschaftsgeschichte an der Universität Bielefeld. Nach Angaben der „Zeit“ arbeitet Wehler am Abschluss des fünften Bandes der „deutschen Gesellschaftsgeschichte“ – einer sozio-historischen Betrachtung der Zeit von 1949 bis 1990.

Material

In den vergangenen Wochen hat die bundesrepublikanische Öffentlichkeit ein bizarres Schauspiel erlebt: Die von ihren internen Konflikten ge­beu­telte Große Koalition war sich in einem verblüf­fenden Punkt plötzlich einig, nämlich dass es hier­zulande keine Unterschicht gebe. […] [A]lle wis­senschaftlichen Anstrengungen [Wehler führt Bei­spiele an] waren offenbar für die Katz – was die Aberhunderte von Volksvertretern im Bundestag angeht. […]
Ob wirklich Leute an die nivellierenden Wirkungen der »Sozialpartnerschaft« glauben? Hat die auf­fällige Konfliktarmut in den Beziehungen zwischen Arbeitgebern und Gewerkschaften die Sinne derart eingelullt, dass die Empirie der gesellschaftlichen Verhältnisse nicht mehr wahrgenommen wird? Ist den Deutschen das Reden in Klassenbegrif­fen besonders zuwider? Aber wie soll eine realitätsangemessene Gesellschaftspolitik betrieben wer­den, wenn die strukturellen Unterschiede in der deutschen Gesellschaft ignoriert, verdrängt, rund­­heraus bestritten werden? […]
Zu den Ergebnissen einer erfolgreich durchgesetzten Marktwirtschaft gehört nun einmal auch die Ausbildung einer Marktgesellschaft, in welcher die Organisationsprinzipien des Marktes weithin die sozialen Beziehungen regieren – das mag man be­klagen, aber durch Verschweigen ändert man es nicht. Auf Arbeitsmärkten wird zum Beispiel die Leis­tungskapazität der Individuen zu Marktpreisen ab­gerufen (oder eben nicht honoriert). Dadurch ent­stehen große Sozialverbände mit einer gemeinsamen Mentalität: Max Weber hat sie treffend »marktbedingte Klassen« genannt. […]
Die marktwirtschaftlich durchstrukturierte Bun­desrepublik hat selbstverständlich […] ebenfalls Marktklassen hervorgebracht, und wen der Markt ausspie, den hat sie mit Transferleistungen in die sozialstaatlichen Ver­sor­gungsklassen befördert. […] [A]ufgrund des »Fahr­stuhl-Effekts« […] tritt soziale Ungleichheit bei uns nicht mehr so verletzend, so provokativ ins allgemeine Bewusstsein wie etwa im 19. Jahrhundert.
Dennoch gibt es hinter der Fassade des Aufstiegs schroffe und unübersehbare Disparitäten. Die klassischen Kriterien der Ungleichverteilung von Macht- und Herrschaftschancen, von Einkom­men, Vermögen und sozialem Prestige sind längst durch Merkmale wie Alter, Geschlecht und Herkunft aus ethnischen Verbänden, von Wohnlage und Gesundheitszustand ergänzt worden. […]
Die Verteilung des Geldvermögens ist in den ersten vier Jahrzehnten der Bundesrepublik auffallend stabil geblieben. Bereits in den sechziger Jahren hatte […] Krelle in einer sorgfältigen Analyse ermittelt, dass die winzige Minderheit von 1,7 Prozent aller Haushalte über 74 Prozent des Produktivvermögens und 35 Prozent des Gesamtvermögens verfügte. Dreißig Jahre später ergab seine Kon­trolluntersuchung einen nahezu identischen Befund. […]
Die Aufteilung des Einkommens auf die Haus­halte bestätigt mithin in einem verblüffenden Maße die Kontinuität dieser Distributionsordnung. Auch die neueste Einkommensanalyse, die für 1995 40 Millionen Steuerpflichtige erfasst hat, be­stä­tigt die eklatante und dauerhafte Ungleichverteilung: Danach bezogen die reichsten zehn Prozent 30,5 Prozent des Nettogeldeinkommens – das Acht­­undzwanzigfache der unteren zehn Prozent.
[…] Die Reichen werden […] in Deutschland immer reicher. Der Einkommens- und Vermögens­abstand zwischen der Spitzenposition und den Ar­beitern hat sich kontinuierlich vergrößert. […]
Angesichts solcher [Befunde] fragt man sich, wie sich das Ungleichheitsgefälle, und mithin auch die Existenz von Unterklassen, überhaupt leugnen lässt. Die Armut […] lenkt den Blick ja nur auf eine ganz spezifische Dimension der Ungleich­heit […]. Der Ausschluss von Herr­schaftspositionen, von Ver­mögen und sozialer Eh­re, die Diskriminierung auf dem Feld der Ge­sund­heits­fürsorge, des Wohnens, der Freizeitgestaltung oder des Bildungszugangs für Kinder – sie betreffen ja noch ungleich mehr Unter­klas­sen­an­ge­hö­ri­ge.
Betrachtet man nicht nur Reichtum und Einkommen, sondern soziale Herkunft, Sprachkompetenz, Schul- und Universitätsausbildung […], dann fördert die Elitenforschung zusätzliche aufschlussreiche Daten über Ungleichheit zutage. […]
Offene Diskussionen, auch über Reichtum, sind notwendig: Völlig verfehlt ist in diesem Zu­sam­menhang der immer wieder auftauchende Vor­wurf des Sozialneids, wenn nüchterne Daten zur sozialen Ungleichheit angeführt werden. […]