Thema:
Schreckgespenst Inflation oder Mittel der Wahl? – Die geldpolitischen Mittel der EZB in der Eurokrise
Aufgabenart:
Analyse – Darstellung – Diskussion
Aufgabenstellung:
- Analysieren Sie den vorliegenden Text hinsichtlich der Meinung des Autors zur drohenden Gefahr einer Inflation im Euroraum.
- Stellen Sie die Entwicklung des Preisniveaus strukturiert dar. Gehen Sie dabei auf die Messung, eine Inflationstheorie sowie auf die Folgen einer Inflation ein.
- Diskutieren Sie die „Politik des billigen Geldes“ (auch: expansive Geldpolitik) als EZB-Strategie zur Rettung stark verschuldeter Euro-Staaten. Denken Sie dabei auch (!) an die Wirkung für die Bürger.
Textgrundlage:
Thomas Straubhaar: Das schlafende Gespenst der Inflation. Financial Times Deutschland, 22.11.2011
Text:
Das schlafende Gespenst der Inflation
Die deutsche Lösung der Staatsschuldenkrise setzt auf fiskalpolitische Instrumente. Dazu gehören insbesondere die gemeinsamen Rettungsschirme. Euro-Länder, die auf privaten Kapitalmärkten Kredite, wenn überhaupt, dann nur zu horrenden Zinsen erhalten, sollen aus einem gemeinsamen Topf Geld zu günstigen Konditionen leihen können. Als Gegenleistung müssen sie zumindest teilweise auf ihre finanzpolitische Autonomie verzichten. Die Briten jedoch verfolgen einen ganz anderen Ansatz. Sie fordern den Einsatz geldpolitischer Instrumente. Die Europäische Zentralbank (EZB) soll den überschuldeten Euro-Staaten zu günstigen Zinskonditionen jenes Geld geben, das auf privaten Kapitalmärkten nicht mehr zu haben ist.
Der Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB ist aus bundesdeutscher Sicht der Anfang eines Schreckens ohne Ende. Für die übrigen Euro-Länder bedeutet er ein Ende des Schreckens. Denn mit dem Versprechen der Europäischen Zentralbank, notfalls die Kapitalmärkte mit EZB-Krediten zu fluten, wäre eines klar: Kein Euro-Land kann mehr pleitegehen. Jede fällig werdende Refinanzierung alter Kredite wäre sichergestellt. Dadurch wiederum würden die privaten Kapitalmärkte schlagartig beruhigt. Die günstigen Zinskonditionen der EZB wären der neue Maßstab aller Kreditgeschäfte. Private Investoren hätten nur noch die Wahl, den Euro-Ländern entweder niedrigere Zinsen als die Zentralbank zu bieten oder auf Kreditgeschäfte mit den Euro-Ländern gänzlich zu verzichten.
Natürlich bleibt es Spekulation, wie sich private Investoren tatsächlich entscheiden würden. Aber es gibt gute Gründe, wieso sich Anleger mit dem Euro-Spatz in der Hand begnügen könnten. Erstens gibt es keine Tauben mehr auf europäischen Dächern, und zweitens wirken außerhalb Europas hohe politische und makroökonomische Risiken abschreckend. Der Euro-Raum bleibt demgegenüber eine hochattraktive Anlageoption. Sobald die Sicherheit durch die EZB garantiert wird, dürfte es somit auch für überschuldete Euro-Länder kein Problem mehr sein, bei privaten Gläubigern Geld einzusammeln. Folglich würde also bereits die reine Ankündigung durch die EZB so sehr für Ruhe auf den Kreditmärkten sorgen, dass große Anleihekäufe durch die Notenbank gar nicht mehr notwendig würden.
Der Aufkauf von Staatsanleihen ist die letzte und zugleich stärkste Waffe der EZB. Ihr Einsatz ist über Nacht möglich. Anders die fiskalpolitische Alternative, die derzeit und absehbar schlicht nicht einsatzfähig ist. Letztlich hat es die Euro-Zone in den vergangenen Monaten nicht geschafft, die Voraussetzung für die fiskalpolitische Strategie – tragfähige Rettungsschirme – zu schaffen. In Deutschland wollte man nicht, in den übrigen Euro-Ländern konnte man nicht ausreichend Mittel in den gemeinsamen Topf einbringen, um private Investoren zu überzeugen, dass kein Euro-Land pleitegeht und damit Kredite an Euro-Länder sicher sind. Im Gegenteil: Der mit Griechenland vereinbarte Schuldenschnitt war mehr als ein Schreckschuss. Er war ein Übergriff auf rechtlich verbindliche Forderungen privater Investoren und damit das klare Signal an sie, dass bei Bedarf weitere Angriffe auf ihr Geld folgen würden.
Die geldpolitische Strategie ist weder kosten- noch risikolos. Mit dem Bailout, also der Enthaftung von den Folgen eigenen Tuns oder Lassens, wird der Schlendrian der überschuldeten Euro-Länder belohnt. Der Wille zur Selbsthilfe, zu ökonomischen Strukturreformen und gesellschaftlicher Modernisierung dürfte erlahmen. Damit wird der Schwache nicht nachhaltig gestärkt und eigenständig. Er dürfte auf lange Zeit vom Starken abhängig und auf dessen Finanzhilfen angewiesen bleiben.
Das eigentliche Risiko jedoch liegt in den Inflationserwartungen, die durch einen Aufkauf von Staatsanleihen durch die EZB geweckt werden. So richtig die Inflationsängste mit Blick auf die Vergangenheit sind, so fraglich bleibt, ob die Sorgen auch in Zukunft berechtigt sind. Nimmt man die japanische Erfahrung der vergangenen fast 20 Jahre, entstehen Zweifel. Die japanische Staatsverschuldung beträgt heute 233 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP): 2016 wird sie bei über 250 Prozent liegen. Trotzdem leidet Japan seit Mitte der 90er-Jahre ununterbrochen an einer Deflation. Das Preisniveau sank 2010 um zwei Prozent, und in diesem Jahr werden es eineinhalb Prozent sein. Und das, obwohl Staatsanleihen mehr als 50 Prozent der Aktiva der Bank of Japan ausmachen. Auch in den USA mit einer deutlich stärkeren Staatsverschuldung von 100 Prozent des BIPs im Vergleich zur Euro-Zone (mit 89 Prozent des BIPs) liegt die Inflationsrate in diesem Jahr nur knapp über zwei Prozent. Für 2012 wird mit einem Rückgang auf wenig mehr als ein Prozent gerechnet; trotz des klaren Bekenntnisses zum “Kauf von Wertpapieren für geldpolitische Zwecke” durch die amerikanische Notenbank.
Offensichtlich ist die Kausalität “Kauf von Staatsanleihen durch die Notenbank bewirkt höhere Inflation” nicht so eindeutig, wie sie in Deutschland vermutet wird. Die Auswirkungen einer sehr expansiv ausgerichteten Geldpolitik auf das Geldmengen- und Kreditwachstum sind heutzutage geringer als früher.
Angesichts der rezessiven makroökonomischen Lage in der Weltwirtschaft dürften zudem die Inflationsgefahren noch für eine Weile begrenzt bleiben. Das mag sich eines Tages ändern und bedarf zweifelsfrei der geldpolitischen Wachsamkeit. Aber möglicherweise verlaufen die geldpolitischen Kanäle in einer global hochgradig verflochtenen Weltwirtschaft anders als in historischen Zeiten der stärker geschlossenen Volkswirtschaften. Und sicher ist es klug, nach wasserdichten Maßnahmen zu suchen, die es der EZB ermöglichen, das Entstehen von Inflationserwartungen bereits im Keim ersticken zu können.