Aufgabenart

Analyse – Darstellung – Diskussion

Thema

Ökonomische Modelle in der Praxis – Fluch oder Segen für die Wirtschaftspolitik?

Aufgaben

I. Analysieren Sie den vorliegenden Text hinsichtlich der von Ritschl vertretenen Ansicht zu den wissenschaftlichen und politischen Reaktionen in der Weltfinanz-/wirtschaftskrise 2007-09.

II. Die Maßnahmen, mit denen versucht wurde, der Wirtschaftskrise entgegen zu treten, sind unterschiedlicher Provenienz (vgl. Z. 6). Stellen Sie die theoriegeleiteten Grundzüge der monetaristischen wirtschaftspolitischen Schule ausführlich und strukturiert dar.

III. Die anfängliche Finanzmarktkrise hat sich als Krise im „realen Sektor“ ausgeweitet. Gemessen an den deutlich negativen Wachstumsraten in den vergangenen Perioden hat sich die Arbeitslosenquote in Deutschland als relativ konstant erwiesen. Diskutieren Sie vor diesem Hintergrund am Beispiel von Möglichkeiten zur Stabilisierung des deutschen Arbeitsmarktes den Nutzen ökonomischer Erklärungsmodelle (s. Thema).

Materialgrundlage

Albrecht Ritschl: Die teure Fehldiagnose 1929. In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 23.10.2009 (gekürzt). Der Autor ist Wirtschaftshistoriker und lehrt an der London School of Economics.

Textgrundlage

Die teure Fehldiagnose 1929

[…] Nie sollten sich die Politikfehler der Weltwirtschaftskrise wiederholen. Vom Grundkurs bis zum Doktorandenseminar wurde überall auf der Welt eingeübt, was in einer schweren Krise zu tun sei. Geldpolitik dürfe sich nicht mehr passiv an die Krise anpassen, sondern müsse aktiv gegenlenken. Fiskalpolitik müsse der Krise mit aggressivem “Deficit Spending” beikommen, zur Not unterstützt durch […] die Notenbank.

Heftig gestritten wurde darüber, ob das keynesianische oder das monetaristische Mittel vorzuziehen sei. Klar aber war immer, dass im Ernstfall beide Mittel zum Einsatz gelangen würden. Dieser Ernstfall ist zur Jahreswende 2007/2008 ausgerufen worden. […] In allen Staaten sind die Löschzüge im Einsatz […]. Vergessen ist Friedmans Kritik am keynesianischen Ausgabenmultiplikator, über Bord geworfen sind die Einsichten zur Sinnlosigkeit von Geldmengensteuerung, umgerannt das Keynes’sche Warnschild am Eingang zur Liquiditätsfalle. Im Notfall greifen die Reflexe aus dem Grundkurs, jeder Handgriff sitzt im Schlaf, die Operation ist perfekt angelaufen, nachgedacht wird später.

Aber irgendetwas stimmt nicht. Der Operationsverlauf entspricht nicht dem Drehbuch. Die Konjunkturprogramme greifen nicht richtig. Die künstlich hineingepumpte Liquidität erreicht die Waren- und Kreditmärkte nicht. Einzig die vielgeschmähte Abwrackprämie scheint kurzfristig etwas bewirkt zu haben – aber sie verschiebt das Problem in die Zukunft. Ihre Dynamik entfaltet die Krise [jedoch] in den Bereichen, die im Lehrbuch gar nicht vorkommen […]. Das makroökonomische Lehrbuchwissen meiner Generation entstammt der Auseinandersetzung mit der Weltwirtschaftskrise, dem bis heute nicht vollständig verstandenen dramatischen Rückgang des Sozialprodukts zwischen 1929 und 1932. Namentlich in den Vereinigten Staaten und Deutschland brach die Wirtschaftsleistung um ein Viertel ein, die Industrieproduktion ging um bald die Hälfte zurück. Den Höhepunkt der Krise markierte die deutsche Bankenkrise des Sommers 1931, kombiniert mit einer Schuldenkrise, dem Auseinanderbrechen des Goldstandards und der Streichung der Reparationen.

[…] In Deutschland waren krisendämpfende Wirkungen staatlicher Ausgabenprogramme aus der Inflationszeit durchaus bekannt. Allerdings sah man sich wegen der hohen Auslandsverschuldung die Hände gebunden; jede Ausgabensteigerung wurde als neuer Versuch gebrandmarkt, sich den Reparationsverpflichtungen zu entziehen. […] Nicht viel besser sah es mit expansiver Geldpolitik aus.

Die intellektuelle Revolution in der Wirtschaftstheorie seitdem bestand darin, von dieser Orthodoxie Abstand zu nehmen und für die Weltwirtschaftskrise ein neues Drehbuch zu schreiben. […] Trotzdem ist die Krise von 1929 keine gute Vorlage für heute. Damals standen am Anfang ein Börsenkrach, fallende Rohstoffpreise, hohe Lohnkosten sowie das Ende der amerikanischen Kredite an Deutschland und damit letztlich des Goldstandards. […] Erst am Ende der Krise standen die großen Banken- und Zahlungskrisen. Ihnen rückte man nach anfänglichen Versäumnissen entschlossen zu Leibe, in Deutschland durch Teilverstaatlichung der großen Geschäftsbanken […].

Ganz anders begann die Krise von 2007/2008 mit einem Bankenkrach und ging erst danach in eine allgemeine Konjunkturkrise über. Nur in der Finanzkrise liegen die Ähnlichkeiten mit den dreißiger Jahren. Die Politik wollte den Unterschied zwischen den Kriseneinbrüchen von 1929 und 2007 aber offenbar nicht recht wahrhaben. Die Notenbanken haben auf die Krise nach dem Lehrbuch reagiert, ignorierten hingegen die Anzeichen für eine systemische Liquiditäts- und Solvenzkrise des Bankensystems, der mit Zinssenkungen nicht beizukommen ist. Man deutete das Geschehen als einen Konjunktureinbruch à la 1929, den man mit makroökonomischen Mitteln zu bekämpfen hoffte. Ein unsanftes Erwachen gab es erst mit den drohenden Bankzusammenbrüchen […] und der […] Lehman-Insolvenz. Erst nach diesem einschneidenden Schock ist die seit 2007 schwelende Bankenkrise als solche behandelt worden. Genau denselben Fehler beging man vor der Bankenkrise von 1931. In beiden Fällen zögerten Politiker, Auffangstrukturen für die sich auftürmenden systemischen Risiken zu schaffen. Und in beiden Fällen haben sie zuletzt unter hohem Zeitdruck Ad-hoc-Maßnahmen ergriffen, die von der Verstaatlichung über staatlich vermittelte Stützungskredite bis hin zu Garantieerklärungen für die Einlagen reichen. Kaum etwas davon ist neu, alle diese Mittel sind ordnungspolitisch problematisch, denn sie laufen auf die Sozialisierung von Verlusten, die Privatisierung von Gewinnen und die weitere Verfestigung monopolistischer Strukturen im Banksektor hinaus. […]

Kern des gegenwärtigen Problems ist die Bereinigung der Finanzmarktkrise. Davon wird die Dauerhaftigkeit des Aufschwungs abhängen. Dagegen sind die spektakulären Experimente der Geld- und Fiskalpolitik zwar für den Experten ein interessanter Testfall (dessen Bestehen zweifelhaft ist), bekämpfen aber die falsche Krise. […] Der [Vergleich] mit 1929 […] ist eine teure Fehldiagnose, und eine riskante zumal.