Thema: Soziale Gerechtigkeit in der Bundesrepublik Deutschland

Aufgabenstellung:

  1. Analysieren Sie den vorliegenden Text in Bezug auf die Position des Autors zur Agenda 2010 und ordnen Sie die Ansicht des Autors zur Sozialpolitik auf der sozioökonomischen Konfliktlinie des deutschen Parteiensystems heraus.
  2. Nennen Sie die drei Grundvorstellungen von sozialer Gerechtigkeit und stellen Sie eine dieser Grundvorstellungen strukturiert dar.
  3. Diskutieren Sie auf der Grundlage des Artikels, inwiefern die Agenda 2010 (die die Hartz-Gesetze beinhaltete) als „Gesundungsrezept“ (Z. 53/54) für verschuldete Länder geeignet ist.

Materialgrundlage:

Heribert Prantl: Die giftige Agenda. Erschienen in der Süddeutschen Zeitung am 09.03.2013 anlässlich des zehnten Jahrestages der Verkündung der Agenda durch den damaligen Bundeskanzler Gerhard Schröder am 14.03.2003.

Der Verfasser ist Journalist und Autor und leitet das Ressort für Innenpolitik der Süddeutschen Zeitung. Seit 2011 ist er Mitglied der Chefredaktion. Prantl ist promovierter Jurist und seit 2010 Honorarprofessor der Fakultät für Rechtswissenschaft an der Universität Bielefeld.

Text

Die giftige Agenda

Ein Sozialstaat ist nicht das Schlaraffenland. Er verteilt nicht nur Überfluss, sondern auch Belastungen. Aber dabei gilt, dass der, der schon belastet ist, nicht auch noch das Gros der Belastungen tragen kann. Ein Sozialstaat gibt also nicht dem, der schon hat, und er nimmt nicht dem, der ohnehin wenig hat. Die Agenda 20101 hat das missachtet; diese Missachtung heißt Hartz IV: Die Schwachen werden belastet, die Starken entlastet. Die Agenda war eine Agenda der einseitigen Zumutungen, eine halbe Agenda.

Der zweite Teil der Agenda ist nie angepackt worden; eine neue Vermögens- oder eine Reichensteuer ist nie gekommen, über Transaktionssteuern wird bis heute nur geredet. Das Reden über Belastungen auch für die Starken, das Lamento über die astronomischen Bezüge von Managern – es war und ist Ablenkungsgerede. Die Agenda hat daher das Vertrauen in den Gerechtigkeitssinn der deutschen Politik beschädigt; sie hat das Fairness-Siegel von der Bundesrepublik heruntergerissen; sie hat der Sozialstaatlichkeit, die einen hohen Verfassungsrang hat, ihren Eigenwert genommen. Sie hat die Armut zum Mittel der Politik gemacht – ‘um Ressourcen frei zu bekommen’, wie Kanzler Schröder sagte. Unterversorgung wurde zu einem wirtschaftspolitischen Instrument. Das ist bitter.

Gute Medizin muss bitter schmecken, sagen die Verteidiger der Agenda; Hauptsache sie hilft. Angeblich hat sie geholfen: Die Zahl der Arbeitslosen sei gesunken. Die Statistik arbeitet mit vielen Tricks, aber dies eine stimmt: die Zahl der Erwerbstätigen ist heute hoch wie nie. Manche sehen darin ein Wunder. Es ist ein potemkinsches2 Wunder, denn das Gesamtvolumen der geleisteten Arbeitsstunden ist geschrumpft. Warum? Weil immer mehr Menschen in mickrigen Beschäftigungsverhältnissen arbeiten; Minijobber werden einfach als Erwerbstätige mitgezählt. Die Agenda hat Zeitarbeit, Mini-Jobs und Ich-AGs gefördert, der Niedriglohnsektor ist stark gewachsen. Der Staat zahlt Aufstockung, übernimmt also die Kosten, die eigentlich durch die Löhne gedeckt werden müssten. Und so subventioniert der Staat die Wirtschaft und schwächt die Gewerkschaften.

Die Agenda 2010 zwingt Arbeitslose in prekäre Beschäftigungsverhältnisse – bei Zuwiderhandlung Leistungskürzung. Prekäre Beschäftigung sei besser als keine Beschäftigung, lautet das Argument dafür. Aber: Die prekären Beschäftigungen greifen um sich, rufen billige Anbieter auf den Markt, die die Ware Arbeitskraft verramschen; die Solidität bisher stabiler Arbeitsstellen ist gefährdet. Ein umfassendes System der Mindestlöhne könnte da helfen; es gibt dieses System nicht. Stattdessen gibt es ein System des Drucks auf Arbeitslose in Form von Sanktionen: Sie müssen ihre ständige Bereitschaft zur Arbeit auf zum Teil alberne Weise unter Beweis stellen, um ihr Recht auf soziale Absicherung zu erhalten.

Arbeitslosigkeit wird so in Zeiten der Massenarbeitslosigkeit zu einem individuellen Versagen erklärt; wer keine oder keine gescheite Arbeit findet, ist selber schuld; er hat sich nur nicht genügend bemüht. Man spricht gern vom aktivierenden Sozialstaat. Man kann den Eindruck haben, dass er nicht die soziale Sicherheit, sondern das Bewusstsein der sozialen Unsicherheit kultivieren will. Das wird befeuert durch Missbrauchs- und Faulheitsdebatten. Seit der Agenda ist der Hilfsbedürftige nicht zuerst hilfsbedürftig, sondern verdächtig; die Agenda hat den sozial Verdächtigen geschaffen. Der Staat zeigt sich nicht fürsorglich, sondern überwachend: ‘Hartzer’ müssen es sich gefallen lassen, dass der Staat in ihren Schlafzimmern schnüffelt, um festzustellen, mit wem sie zusammen wohnen.

Die Hartz-Gesetze waren kleinlich, schlampig, schikanös; sie haben auf ungute Weise pauschaliert. Sie haben Langzeitarbeitslose gezwungen, ihr kleines Vermögen zu verscherbeln, ihre Lebensversicherungen zu einem Spottpreis zu verkaufen, also das fürs Alter Ersparte aufzuzehren. Die Gerichte, das Bundesverfassungsgericht zuoberst, haben einen Teil des legislativen Wahnsinns korrigiert, Karlsruhe hat die Hartz-IV-Sätze für verfassungswidrig erklärt und ihre ordentliche Berechnung erzwungen. Die Energie, die die Politik verbrauchte, um das verfassungswidrige Hartz-Gesetz zu verteidigen, hätte besser genutzt werden können.

‘Hartzer’: Das ist nun der Name für die Armen in Deutschland; und ‘IV’: Das ist die Bezeichnung für die steile Rutsche, die in die Armut führt. Dieses Gerät hat das soziale Netz ersetzt. Es ist bezeichnend, dass sich die Zahl der Tafeln, an der Bedürftige Lebensmittel erhalten, seit der Agenda vervielfacht hat. Diese Agenda wird heute südeuropäischen Staaten als Gesundungsrezept angedient: Privatisierung, Deregulierung, Prekarisierung. Die Agenda nun also für Europa? Man soll aus Fehlern lernen; man soll sie nicht repetieren3, potenzieren, europäisieren.