Thema
Die Kosmopolitisierung der Europäischen Union als Chance für nationale Stabilität?
Aufgaben
- Analysieren Sie den vorliegenden Artikel hinsichtlich der von Beck vertretenen Ansicht zur Entwicklung der EU. Ordnen Sie dabei den Autoren begründet einer Integrationstheorie zu.
- Stellen Sie eine andere Integrationstheorie strukturiert und detailliert dar.
- Diskutieren Sie die Ansicht Becks vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen innerhalb der Europäischen Union.
Materialgrundlage
Ulrich Beck: Nein, wir schaffen das nicht allein. In: Die Zeit vom 30.06.2011 (gekürzt)
Der Autor war bis 2009 Professor für Soziologie an der Ludwig-Maximilians-Universität München und ist Gastprofessor für Soziologie an der London School of Economics and Political Science. Zuletzt erschien von ihm das Buch „Das kosmopolitische Europa“.
Nein, wir schaffen das nicht allein
Der Prozess der europäischen Einigung hatte nach dem Zweiten Weltkrieg eine klare Begründung: »Nie wieder!« Ging es doch darum, wie aus Feinden Nachbarn werden. Weil dieses Wunder gelang, mobilisiert das Friedensprojekt nicht mehr ohne Weiteres. Daran kann überhaupt kein Zweifel bestehen: Das Projekt der europäischen Einigung bedarf dringend einer zusätzlichen Begründung! Dazu drei Thesen.
These 1: Die Neubegründung der EU eilt, weil sich drei selbstzerstörerische Prozesse in Europa überlagern und wechselseitig verstärken – »Ausländerfeindlichkeit«, »Islamfeindlichkeit« und »Europafeindlichkeit«. Den Kritikern »des« Islam, der angeblich die westlichen Werte der Freiheit missbraucht, gelang es, Ausländerfeindlichkeit und Aufklärung zu verbinden. Plötzlich konnte man sogar im Namen der Aufklärung gegen Einwanderer sein.
Im Zusammenhang mit den Rettungsschirmen für die südeuropäischen Länder hat sich eine neuartige, nationalistische Ressentiments
aufheizende Verteilungs- und Konfliktlogik entwickelt. Die Geberländer müssen nach innen Sparprogramme durchsetzen und ziehen deswegen die politischen Daumenschrauben bei den Griechen bis über die Schmerzgrenze hinweg an. Die Griechen wiederum sehen sich dem »Diktat der EU« unterworfen, das ihre nationale Unabhängigkeit und Würde verletzt. Beides schürt Hass auf Europa.
Hier wie dort wird […] die Europafeindlichkeit befeuert. (Warum nehmen wir eigentlich Unwahrheiten über Europa mittlerweile widerstandslos hin? Die EU-Verwaltung hat bekanntlich weniger Beamte als die Stadt Köln!) Dahinter steht unausgesprochen die Überzeugung: Wir schaffen das auch allein. […]
Das ist die nationale Lebenslüge, das ist die neue deutsche Ohnemichelei
. […] Ganz allgemein redet man über Europa, als wäre Deutschland völlig eigenständig. Die Gegenfrage gehört endlich auf den Tisch: Man stelle sich vor, die EU würde tatsächlich zerfallen. Welche Kosten würde es verursachen, die europäische Währung wieder durch zwölf nationale Währungen zu ersetzen, wieder alle nationalen Grenzen zu kontrollieren und nationale Zölle einzuführen, europäische Regulierungen wieder durch 27 nationale zu ersetzen? […]
These 2: Europa krankt weder an der Euro-Krise noch an der fehlenden Bereitschaft, die politische Union auszubauen (zum Beispiel durch eine europäische Wirtschaftsregierung), noch an dem Mangel einer europäischen Bürgerbewegung. Das sind die Symptome
. Das Grundproblem ist ein ganz anderes: Europa krankt an einem Selbstmissverständnis. Genau das großartige Ziel der »Vereinigten Staaten von Europa« – so wie es bislang verstanden wird – macht Europa und seine Mitgliedsländer hinter der Fassade gemeinschaftlichen Handelns letztlich zu Erzrivalen, die wechselseitig ihre Existenz infrage stellen. Solange es heißt »Entweder Europa oder die Nationalstaaten« und ein Drittes ausgeschlossen bleibt, werden dort, wo von »Europa« die Rede ist, Ängste geweckt. Muss in dieser Wahrnehmung doch die Existenz der Nationalstaaten stets gegen Europa verteidigt werden. […]
These 3: Das »ausgeschlossene Dritte« ist ein kosmopolitisches Europa und ein kosmopolitisches Deutschland. In diesem Sinne gilt es, zwischen Nation und Nationalismus klar zu unterscheiden und die Nation nicht den Nationalisten zu überlassen. Wer angesichts eines schleichenden Zerfalls der EU ein »Zurück zur Nation« fordert, […] handelt naiv und unpatriotisch; naiv, denn er verschweigt die unermesslichen Kosten einer Auflösung der EU; unpatriotisch, denn er gefährdet Deutschland. […]
Ein kosmopolitisches Deutschland bedarf auch eines neuen Souveränitätsbegriffs. Denn Europa entmächtigt nicht, sondern ermächtigt die Nationen. Den Mitgliedstaaten – aber nur ihnen! – eröffnen sich mit der Verinnerlichung der europäischen Spielregeln neue Machtchancen. Sie erhalten eine Stimme im europäischen Raum und weit darüber hinaus […]. Sie können auf die Ergebnisse der europäischen Politik direkt Einfluss nehmen. Die Lösung ihrer »internen« nationalen Probleme – wie Kriminalität, Migration, Umwelt, aber auch landwirtschaftliche Entwicklung, technologische und wissenschaftliche Kooperation – erfolgt mit der gebündelten Macht der EU. […]
Es geht also letztlich darum, das Schicksal der Europäischen Union – oder aktuell gesagt: das Schicksal Griechenlands – als Teil des Schicksals Deutschlands zu begreifen, und zwar in dem Sinne, wie Willy Brandt es während der ersten Sitzung des gesamtdeutschen Bundestages sagte: »Deutsch und europäisch gehören jetzt und hoffentlich für alle Zukunft zusammen.«
Es ist an der Zeit die Causa Europa
vom nationalen Kopf auf die kosmopolitischen Füße zu stellen: Die ewige Krise namens Europa ist eine große Chance für die Politik in Deutschland! […] Die neue Europapolitik, das heißt das kleine und große Einmaleins der Finanz-, Umwelt- und Sozialpolitik europäisch auszubuchstabieren, das könnte das Kernprojekt einer rot-grünen Regierung sein […]. [Die EU] wäre ein soziales Europa der Arbeitnehmer im Werden und ein Bürger-Europa, das um demokratische Legitimation und politische Antworten auf globale Probleme in einer Weise ringt, die für die Menschen im Alltag transparent und existentiell wichtig ist. Und dem sie deshalb ihre Stimme geben. […]