Thema:
Gesellschaftsstruktur der Bundesrepublik Deutschland –  können Schulen die soziale Ungleichheit aufheben?

Aufgabenstellung:

  1. Stellen Sie ein soziologisches Modell zur sozialen Schichtung der Gesellschaft der Bundesrepublik Deutschland dar. (20 Punkte)
  2. Analysieren Sie den vorliegenden Text, indem Sie die Position der Autorin zur Chancengleichheit in der Bundesrepublik Deutschland und ihre Argumentationsstruktur herausarbeiten. Arbeiten Sie hierbei insbesondere Bezüge zu den Ihnen bekannten Klassen-, Schicht- und Milieumodellen heraus. (40 Punkte)
  3. Diskutieren Sie, inwiefern Veränderungen in Schulen einen entscheidenden Beitrag zur Verringerung der sozialen Ungleichheit in Deutschland leisten könnten. Berücksichtigen Sie hierbei sowohl Chancen als auch Grenzen der Schulpolitik. (20 Punkte)

Textgrundlage:

Lisa Herzog: „Gleiche Chancen?“

Erschienen in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung am 04.08.2013, leicht gekürzt.

Zur Person:

Lisa Herzog (29) studierte Volkswirtschaftslehre und Philosophie in München und Oxford. In Oxford promovierte sie 2011 mit einer ideengeschichtlichen und zugleich systematischen Arbeit über Adam Smith und G. W. F. Hegel: Es geht darum, ob soziale Gerechtigkeit mit oder gegen die Märkte erreicht werden kann. Seit April 2013 arbeitet Lisa Herzog als Postdoc am Institut für Sozialforschung und am Exzellenzcluster „Normative Ordnungen“ in Frankfurt und forscht über „moralische Akteure am Finanzmarkt“. (Quelle: faz.net)

Text

Gleiche Chancen? 

Die Sommerferien sind vielleicht die Zeit des Jahres, in der die Gegensätze zwischen den Lebenswelten deutscher Kinder und Jugendlicher die krasseste Form annehmen. Da sind die bildungsbürgerlichen Einzelkinder, die nun der vollen Hingabe ihrer Eltern ausgeliefert sind. Sie werden vom Ballett- zum Chinesischunterricht gekarrt, vielleicht ergänzt um einen Sommerkurs mit einer englischsprachigen Yogalehrerin. Von klein auf lernen sie, sich eine politische Meinung zu bilden, lateinische Fremdwörter werden nicht nur erklärt, sondern auf Wurzel und Präfix1 zurückgeführt. Über Schul-, Musikschul- und Tanzschulerfolg wachen die Eltern mit Argusaugen – in Nordamerika wurde die wunderbare Vokabel „Helikopter-Eltern“ dafür erfunden. Und auch, wenn manche von ihnen heimlich den Kopf schütteln über den Aufwand, der da getrieben wird: Dürfte man für derartige Überzeugungen die Zukunft des eigenen Kindes aufs Spiel setzen, wenn alle das Spiel mitspielen?

Wer die gentrifizierten2 Viertel der Städte verlässt, sieht die andere Seite des Lebens. Dort, wo die Mieten günstiger und die kulturellen Hintergründe gemischter sind, finden sich Kinder, die eine unbehütetere Kindheit haben: die stundenlang auf den Straßen und Hinterhöfen spielen, ihre jüngeren Geschwister hütend, den rostigen Spielplätzen und sich selbst überlassen. Dort gibt es keinen Wettbewerb um Plätze in Orff-Gruppen3 oder englischsprachige Kitas, mehrsprachig ist man sowieso, es hapert eher an der mangelnden Unterstützung bei der Bildung deutscher Adjektivendungen.

[…]

Außerdem greifen im Bildungsbereich soziale Netzwerkeffekte. Wer von den „richtigen“ Leuten umgeben ist, bekommt die richtigen Tipps und hat die entscheidenden Kontakte. Kinder von Eltern, in deren Freundeskreis sich Ärzte, Ingenieurinnen, und Professoren bewegen, haben Rollenvorbilder und Gesprächspartner, die ihnen dabei helfen können, sich beruflich zu orientieren. Jemand kennt jemand, der jemanden kennt, der einen Praktikumsplatz zu vergeben hat, oder der von den Freunden in Frankreich weiß, die eine Partnerfamilie für einen Austausch suchen. Keine einzelne dieser Handlungen ist an sich ausschlaggebend; niemandem wird damit direkt geschadet, im Gegenteil: Man freut sich, helfen zu können. Aber die Summe derartigen Verhaltens führt doch dazu, dass der Startvorteil mancher Kinder erheblich ist, während andere abgehängt werden.

Selbst wenn die Sorge um den eigenen Nachwuchs in den bürgerlichen Schichten weniger neurotische und verkrampfte Formen annähme, als dies gegenwärtig oft behauptet wird, bliebe das Problem bestehen. Elternliebe, Freundschaftsdienste und die unmöglich zu verhindernden Vorteile, die Kinder haben, die aus den „richtigen“ Elternhäusern kommen, werden insgesamt zu einer Bedrohung für einen der zentralen Werte demokratischer Rechtsstaaten: die Chancengleichheit. Dass völlige Gleichheit in der Endverteilung schwer realisierbar und vielleicht gar nicht wünschenswert ist, haben auch viele, die sich politisch im linken Spektrum verorten, anerkannt. Aber umso wichtiger wird die Frage danach, ob Kinder aus allen Elternhäusern eine gleiche Chance darauf haben, ihre Talente zu entwickeln und diejenigen Berufe zu ergreifen, die ihren Vorlieben und Fähigkeiten am besten entsprechen. Das Bemühen bildungsbürgerlicher Eltern um den eigenen Nachwuchs scheint genau diesen Wert zu bedrohen.

[…]

Es sind [aber] nicht die Eltern […], die Kritik verdienen – höchstens aus der Perspektive der ballett- und chinesischunterrichtgeplagten Kinder -, sondern die Politik, und damit letztlich wir alle als Bürger. Und es ist ja auch nicht so, dass das Thema die Öffentlichkeit nicht beschäftigen würde. Viele Rezepte sind bekannt und haben sich in Einzelfällen wunderbar bewährt, sei es, dass die Schulen mit umfassenden Bildungskonzepten Defizite in den Elternhäusern ausgleichen, sei es durch zivilgesellschaftliche Initiativen, die informelles Mentoring4 und psychologische Unterstützung anbieten. Aber es scheint der Wille – was in vielen Fällen konkret heißt: das Geld – zu fehlen, derartige Maßnahmen flächendeckend umzusetzen. Dabei wären hier investierte Mittel gut angelegt, denn die Folgekosten von mangelnder Bildung und sozialer Exklusion ziehen sich über Jahrzehnte. Es geht, wohlgemerkt, nicht um Gleichmacherei und die Verleugnung von Leistungsunterschieden. Aber es geht darum, dass individuelle Förderung und das Entdecken unterschiedlicher Talente innerhalb eines gemeinschaftlichen Rahmens stattfindet, der allen eine Chance darauf gibt.

[…]

Vielleicht ist es ein Missverständnis dessen, was staatliche Schulpolitik leisten kann und soll, das hinter dem mangelnden Willen steckt, etwas zu verändern. Ein immer wieder gehörter Einwand lautet nämlich: Schulen können das, worum es hier geht, sowieso nicht leisten. Sie können nicht wettmachen, dass manche Kinder von klein auf mit Büchern aufwachsen und andere nicht, dass es in manchen Elternhäusern selbstverständlich ist, bei den Hausaufgaben zu helfen, und in anderen eher die Kinder den Eltern helfen müssen, im Alltag zurechtzukommen. Das stimmt – aber es ist nicht das einzige, worauf es bei einer gelingenden Schulpolitik ankommt. Es geht auch darum, Räume gesellschaftlicher Begegnung zu schaffen, die über den schulisch vermittelten Stoff und das Bewerbungstraining hinausgehen. Wo öffentliche Schulen so gut sind, dass alle, oder fast alle, Familien ihre Kinder dorthin schicken, entstehen Freundschaften. Kinder lernen, was für unterschiedliche Lebens- und Arbeitsformen es in unserer Gesellschaft gibt. Familien lernen sich kennen, die sich ansonsten kaum über den Weg laufen würden, und das Engagement aktiver Eltern kommt den Schulgemeinschaften als Ganzen zugute. All die soziologischen Effekte, die sonst nur innerhalb verschiedener Milieus greifen und diese zementieren, greifen dann im Idealfall auch für Kinder aus anderen Schichten. Die Schulgemeinschaften werden farbiger, und die Stärkeren ziehen die Schwachen mit.

Eine Utopie? Vielleicht. Aber eine, die doch realistische Chancen auf Umsetzung hätte – wenn alle Eltern an einem Strang ziehen würden. Die Weichen, die in der Kindheit und Jugend gestellt werden, prägen Gesellschaften auf Jahrzehnte. Derzeit sind sie vielerorts auf ein immer weiteres Auseinanderdriften der Milieus gestellt. Dadurch entsteht ein immer aufreibenderer Wettbewerb um die besseren Plätze auf der einen, und ein immer hoffnungsloseres Abgehängtwerden auf der anderen Seite. Die tiefergehenden gesellschaftlichen Folgen lassen sich erahnen, und sie verheißen wenig Gutes. Was verlorengeht, sind die Erfahrung von Gemeinschaft, Begegnungen über die Schichten hinweg, und ein Sinn von Normalität. Aber nach genau dieser Normalität scheinen sich, über alle sozialen Schichten hinweg, sehr viele Eltern zu sehnen, vielleicht auch viele derjenigen, die aus schierer Unsicherheit zu Helikopter-Eltern geworden sind. Wenn deren Anstrengungen weg vom individualistischen Kampf für den eigenen Nachwuchs zu politischem Engagement für eine bessere Schulpolitik würden, könnten am Ende alle profitieren – die Gesellschaft, die Eltern, und vor allem alle Kinder.