Thema: Freie Marktwirtschaft – Gier statt Wohlstand?

Aufgabenart: Darstellung – Analyse – Stellungnahme

Aufgabenstellung:

  1. Stelle kurz dar, wieso nach Ansicht des klassischen Liberalismus eine sich selbst überlassene Wirtschaft optimal funktioniert und welche Rolle dem Staat darin zukommt.
  2. Analysiere den vorliegenden Text
    1. hinsichtlich der Position des Autors zum „Klassischen Kapitalismus“ und
    1. hinsichtlich des Anspruchs und der von Prantl skizzierten Wirklichkeit einer „sozialen Marktwirtschaft“.
  3. Prantl bezeichnet seine Forderung als „Herkules-Aufgabe“ (Z. 52). Nehme begründet Stellung, ob Du diese für lösbar hälst. Beachte dabei auch, dass der Text inzwischen mehr als vier Jahre alt ist, d.h. zu Beginn der Finanz- und Schuldenkrise entstand.

Textgrundlage: Heribert Prantl: „Der geläuterte Kapitalismus“. Süddeutsche Zeitung, 19.09.2008. Heribert Prantl ist Jurist, Journalist und Autor. Er leitet das Ressort für Innenpolitik bei der Süddeutschen Zeitung und ist Mitglied der Chefredaktion.

Text:

Der geläuterte Kapitalismus

Ein Kommentar von Heribert Prantl (Süddeutsche Zeitung, 19.9.2008)

[…] Der Kapitalismus hat gesiegt. So sagt man, seitdem Kommunismus und Staatssozialismus weltweit gescheitert sind. Mittlerweile drängt sich aber der Eindruck auf, dass der Kapitalismus gar nicht gesiegt, sondern nur überlebt hat, womöglich auch sich selbst. Sieger sehen anders aus. Sie haben keine Panik, fallen nicht in Konkurs, rufen nicht nach Hilfe. Um sich zu retten, appellieren Großbanken und globale Investmentfirmen nach Subsidien

der Instanz, deren Abwesenheit bisher als Kennzeichen des Systems gegolten hat: Sie brauchen den Staat.

Die Form des Kapitalismus, die man “Turbo-Kapitalismus” genannt hat, widerlegt, zerlegt und besiegt sich gerade selbst. Der Turbo war die Gier. Und die Gierlehre, die eine Irrlehre war, behauptete, dass die gigantische Geldakkumulation an der Spitze nicht nur den Leuten an der Spitze, sondern, im Wege des Durchsickerns, auch den Armen helfe und so für Gerechtigkeit sorge. Auf diese Weise ließen sich auch Massenentlassungen rechtfertigen, weil ja der dadurch erzielte Profit theoretisch irgendwie und irgendwann auch den Entlassenen wieder zugutekommen werde. Die Theorie blieb aber Theorie. Die Praxis zeigt sich jetzt: Der Turbokapitalismus frisst seine Kinder, seine Künder und deren Derivat.

Wenn die bisherigen Protagonisten des völlig freien Markts jetzt nach Regulierung rufen, dann muss man dem nicht mit Häme begegnen. Man kann es als späte Einsicht, als Umkehr begrüßen – und als Aufforderung, gemeinsam Remedur

zu schaffen. Die Welt erlebt derzeit ein Fegefeuer des Kapitalismus. Was kommt danach? Es wird ein geläuterter Kapitalismus sein müssen. Es gibt ihn schon, im kleinen Format, man kann seinen Erfolg studieren – er heißt soziale Marktwirtschaft. Diese soziale Marktwirtschaft hatte aber nur den Nationalstaat als Rahmen; darum geht ihr nun die Kraft aus.

Überall da, wo in den nachfolgenden Sätzen ein “ist” steht, kann man deshalb ein “war” setzen. Also: Die soziale Marktwirtschaft, wie sie in der Bundesrepublik nach dem Zweiten Weltkrieg aufgebaut wurde, ist die erfolgreichste Wirtschafts- und Sozialordnung, die es in der Wirtschaftsgeschichte je gegeben hat. Sie ist nicht Kapitalismus pur, nicht Catch-as-catch-can-Ökonomie. Sie ist der erfolgreiche Versuch, Wettbewerb und soziale Gerechtigkeit auf einen Nenner zu bringen. Sie hat den Kapitalismus gebändigt.

Nur leider: Sie leistet dies immer weniger. Soziale Marktwirtschaft setzt einen handlungsfähigen Staat voraus, einen Staat, der die Ordnung des Wettbewerbs garantiert. Seitdem sich die Wirtschaft globalisiert, entzieht sie sich der ordnenden Hand – weil diese Hand eine nationale geblieben ist. Die Wirtschaft hat sich globalisiert, die staatliche Ordnung nicht. Die EU kümmert sich um Marktfreiheit, weniger um Marktordnung und Marktkontrolle; selbst der EU-Gerichtshof verkauft, wie die Deutsche Richterzeitung klagt, “Staat und Recht an den Wettbewerb”.

Weltökonomie und Nationalstaaten treiben auseinander. Im Abgrund dazwischen liegen die Arbeitsplätze und die Zukunftshoffnungen der Menschen. Der “Mann der Arbeit”, in Arbeiterliedern besungen

, erkennt, wenn er “aufgewacht” ist, nicht mehr seine Macht, sondern seine Ohnmacht. Das Kapital dagegen hat, von Grenzen befreit, seine eigenen Märkte gefunden, setzt auf Gewinne durch Spekulation und Handel mit sich selbst. Indes: Wer ist Spekulant? Selbst die prüdesten Pensionsfonds stecken in dubiosen Devisengeschäften. Und jeder, der Geld anlegt, kann zum Mitspekulanten werden, weil die Komplexität der Geldanlagen, selbst derjenigen in der Bankfiliale an der Ecke, kaum jemand überblickt. Da hilft es nichts, dass man gern anständig bleiben möchte, wenn das System unanständig arbeitet.

[…] Ein geläuterter Kapitalismus muss demokratieverträglich sein. In der Demokratie gibt es, im Gegensatz zum Unternehmen, keine “überflüssigen” Menschen. Von dieser Erkenntnis ging die soziale Marktwirtschaft aus. Sie muss auf die höhere Ebene gehoben werden, es muss gelingen, die internationale Wirtschafts- und Finanzordnung so zu regeln, dass sie sozial verträglich wird. Es ist eine Herkules-Aufgabe. Sie richtet sich an die Vereinten Nationen, an die G-8

– und also an die Regierungen der Industriestaaten: Es geht um Verankerung eines Kernbestandes wettbewerbsrechtlicher Prinzipien, um internationale Bankenaufsicht, eine gemeinsame Zinspolitik, eine Spekulationssteuer. Es geht darum, der Anarchie der Märkte ein juristisches Koordinatensystem zu geben und es dann Stück für Stück durchzusetzen. Es braucht einen neuen contrat social.

Manche vergleichen den nackten Kapitalismus mit einem Krieg, einem Krieg gegen Arbeitsplätze unter anderem. Wenn man bei diesem Vergleich bleiben will: Die Weltgemeinschaft hat es zwar nicht vermocht, den Krieg abzuschaffen – aber immerhin, ihn einzuhegen, Regeln dafür aufzustellen, was im Krieg erlaubt ist und was nicht. Das muss auch für den Kapitalismus gelingen.