Thema

Dauerhafte Ungleichheiten in der deutschen Gesellschaft?

Aufgaben

1. Analysieren Sie die Auffassung Allmendingerists und Wimbauers zur bundesdeutschen Sozialstruktur, indem Sie die vorgetragene Argumentationsstruktur zusammenfassen und die angeführten Befunde an Beispielen veranschaulichen.

2. Stellen Sie den Milieu-Ansatz als eine weitere Möglichkeit zur Beschreibung der Sozialstruktur kontrastierend dar.

3. Eine Ursache dauerhafter sozialer Disparitäten in Deutschland ist nach Allmendingerist/Wimbauer das Bildungssystem (Z. 93 ff.). Entwickeln Sie auf Basis von PISA und anderer (Bildungs-)Studien Maßnahmen zur Überwindung der soziostrukturellen Reproduktionswirkung des deutschen Bildungswesens.

Materialgrundlage

Jutta Allmendingerist/Christine Wimbauer: Deutschland, eine Klassengesellschaft? In: Zeit Wissen 4/2006.
Die Autorin Jutta Allmendingerist Direktorin des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg und Professorin für Soziologie an der Ludwig-Maximilian-Universität München.
Die Koautorin Christine Wimbauer ist promovierte Soziologin an der Universität Erlangen-Nürnberg und am IAB Nürnberg.

Material

Deutschland, eine Klassengesellschaft?
Lebten wir in den USA oder in Großbritannien, wür­den wir selbstverständlich mit Ja antworten, »wir leben in einer Klassengesellschaft«. […] Working-class und upper class sind dort akzep­tierte Be­grif­fe. Anders in Deutschland: Den Be­griff »Ar­beiter­klas­se« hören wir nicht mehr, nur selten wird »Ka­pi­ta­lismus« in den Mund genom­men, dann aber nicht als Bezeich­nung einer Klas­sengesell­schaft. […] Gibt es in Deutsch­land keine Klas­sen mehr?
Früher waren die Klassenbegriffe eindeutig. In der feudalen Ständegesellschaft standen Leib­eigene den Adligen und dem Klerus gegenüber. Im Über­gang zur kapitalistischen Gesellschaft, also im Zuge der Industrialisierung, schärfte Karl Marx als Ur­heber der eigentlichen Klassentheorie die Spra­che: Dem­nach stehen sich zwei Groß­gruppen mit ein­ander aus­schließenden Interes­sen gegenüber, das Proletariat und die Bourgeoi­sie. […]
In den folgenden Jahrzehnten differenzierten sich die Begriffe. Max Weber, Mitbegründer der deutschen Soziologie zu Beginn des 20. Jahr­hunderts, definierte unterschiedliche soziale […] Schich­ten, Helmut Schelsky entdeckte 1953 die »Mittel­stands­ge­sell­schaft«, und in den 1980er Jah­ren war vom Ende der Klas­sen­gesellschaft die Rede […]. Später kamen die Postmodernisten und die Lebens­stil­for­scher auf […].
Eine bemerkenswerte Entwicklung. Denn zu­gleich bestreitet niemand, dass in Deutschland er­hebliche Ungleichheiten bestehen und dass diese sogar größer werden. Die Ungleichheit der Einkom­men und Vermögen nimmt zu, die Rei­chen werden reicher, die Armen mehr – die Ar­beitslosigkeit liegt seit Jahren über zehn Prozent, und der Anteil der Langzeitar­beitslosen wächst. […] Auch finanzielle Un­gleichheiten zwischen Fa­milien mit Kindern und Kin­derlosen sind bekannt, zwi­schen Männern und Frau­en, zwischen Perso­nen aus Einwanderer­haushalten und alteingeses­senen Deutschen. Ist das also der Be­fund: Un­gleichheiten ja – Klassen nein?
So könnte man es sehen, doch alles hängt da­von ab, wie man Begriffe wie »Klasse« und »Schicht« defi­niert. Über derartige Definitionen nach­zudenken ist keine akademische Spielerei, denn dabei klärt sich, was wir für bedeutend hal­ten und was nicht.
Von einer Klasse oder Schicht können wir re­den, wenn drei Kriterien erfüllt sind: Die soziale Lage ist kein Einzelschicksal, sie wird also mit an­deren geteilt; sie ist dauerhaft; und sie wird an die Kinder weiterge­geben. […] Klassen unter­scheiden sich nach ihren In­teressen, die sich aus ih­rer Stellung in der Gesell­schaft ergeben. Aus den Klasseninteressen kann Klassenbewusstsein er­wach­sen, und das ist eine Größe, die schon mehr­mals Ge­schichte gemacht hat. […] [W]er von Schich­ten spricht, sieht diese Men­schengruppen eher als Teil ei­nes gesellschaftli­chen Ganzen; eine »Unterschichtsbe­wegung« gibt es nicht.
Messen wir die Kriterien anhand der deut­schen Wirklichkeit:
Es besteht ein enger Zusammenhang zwi­schen sozialer Herkunft und Bildungschancen, der auch von den Pisa-Studien eindrucksvoll be­legt wird. […] Die soziale Auslese funktioniert als »Bil­dungstrichter«.
Etwa zehn Prozent eines Jahrganges kön­nen als »bildungsarm« bezeichnet werden […]. Fast ein Viertel der Altersgruppe gilt als Risikogruppe […]. Stammen die Jugendlichen aus Einwande­rerfamilien, so liegen die Anteile wesentlich hö­her. Ge­rade hier, im unteren Bildungsbereich, wird Bildung so­zial vererbt: Bereits die Eltern hat­ten wenig Bil­dung, den eigenen Söhnen und Töchtern wird es ähnlich er­gehen. Die soziale Lage ist dauerhaft.
Bildung ist nicht nur eine Chance zur Selbst­entdeckung und Selbstentfaltung, sondern Bil­dung ist auch wesentlich für die Integration in die Ar­beitswelt, die ihrerseits das Einkommen be­stimmt. Und umge­kehrt gilt: Arbeitslosigkeit kon­zentriert sich auf be­stimmte Bildungsgruppen. […]
Das also ist unser Befund: Nach wie vor ist es schwer, aus bildungsfernen Elternhäusern zu ho­hen Qualifikationen zu finden. Und je mehr Bil­dungsarmut und Arbeitslosigkeit einhergehen, de­sto schwieri­ger wird es für die Kinder, sich zu quali­fi­zieren und in eine eigene Arbeitswelt hin­einzufinden. Unsere Ge­sellschaft hat diese Form struktu­rier­ter Ungleichheit nicht hinter sich gelas­sen. Im Ge­gen­teil, sie nimmt zu – und sie scheint sich zu ver­festigen.
Wer hat, dem wird gegeben: Das Matthäus-Prin­zip gilt noch heute. Das belegt die niedrige Durchläs­sigkeit des deutschen Schulsystems. Über­gänge von der Hauptschule in die Realschu­le oder gar auf das Gymnasium sind selten. Auch die Mög­lichkeit zur be­ruflichen Weiterbildung hängt vom Ausgangsniveau ab. Wie eine Studie des Insti­tuts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung zeigt, nimmt jeder zehnte Be­schäftigte mit niedriger Qua­lifikation an einer betrieb­lichen Weiterbildung teil, unter den Hochqualifizierten ist es jeder zweite. Hö­her gebildete Personen sind län­ger erwerbstätig, sie beziehen höhere gesetzliche Ren­ten und kön­nen diese mit einer Zusatzversicherung aufstocken. Ihre Gesundheit ist besser, ihre Lebenser­wartung höher.
Kann die verfestigte Ungleichheit in Deutsch­land über die individuelle Betroffenheit hinaus eine kollek­tiv wahrgenommene Unterprivilegie­rung er­zeugen – und damit einen Ausgangspunkt für so etwas wie Klassenbewusstsein? […]
Das kann schon sein. Nehmen wir nur die Ent­wicklung der Arbeitslosigkeit. Das Risiko, ar­beitslos zu werden, erfasst wachsende Teile der deutschen Ge­sellschaft. Aber es ist nicht in ers­ter Linie dieses Risi­ko, das soziale Gruppen formt oder trennt, son­dern es sind die ungleich verteilten Risiken, arbeits­los zu bleiben. Gut [Q]ualifizierte […] finden schnell den Weg zurück in die Erwerbsar­beit. In wachsen­dem Umfang kann Arbeitslosigkeit sogar ganz ver­mieden werden, was die steigende Zahl der Job-to-Job-Vermittlungen zeigt. Der Erfolg ist auch fi­nanziell sichtbar: Die Bundesagentur für Arbeit gibt für Arbeitslosengeld I immer weniger aus. Doch auf der anderen Seite verfestigt sich die Langzeitar­beitslosigkeit: eine wachsende Zahl von Menschen findet aus ihrer Arbeitslosigkeit nicht mehr heraus. […]
Leben wir also in einer »Klassengesellschaft«? Nein und ja. Nein, wenn man Klassen im Marx­schen Sinne fasst, denn es existieren nicht nur zwei bestim­mende Großklas­sen – Kapitalisten und Ar­beiter. Ja in­des, wenn man die drei [genannten] Kriterien […] anlegt. Die Soli­darisierung der von dauerhaf­ter Ausgrenzung Betrof­fenen oder Bedrohten wird allerdings von der vor­herrschenden gesellschaftli­chen Denkwei­se erschwert: Die Position des Ein­zelnen er­scheint ihm als individu­elles Schicksal oder Ver­sagen. Es ist derzeit unwahr­scheinlich, dass sich aus der gemeinsamen Lage der sozial Benachtei­ligten ein Bewusstsein entwickelt, das zur politi­schen Aktion drängt. […]