Sozialwissenschaften – jetzt erst recht!
Ein Schulfach, das fast 50 Jahre zum Profil nordrhein-westfälischer schulischer Bildung gehörte und anderen Bundesländern und Staaten zum Vorbild diente, soll nun endgültig beseitigt werden. Ersatz gibt es nicht.
Umgehung einer demokratischen Auseinandersetzung über Bildungsziele
Das Schulministerium setzt im Windschatten der COVID-Pandemie sein Vorhaben, ein Monofach „Wirtschaft“ zu etablieren, Schritt für Schritt um. Es wird in die Trickkiste gegriffen, indem man über die Lehrerzugangsverordnung das Unterrichtsfach „Wirtschaft“ durchsetzt. Der demokratisch-gesellschaftliche Diskurs über die Bildungsziele an Schulen wird so ausgehebelt. Weder Fachverbände noch die beteiligten Hochschulen, die Fachleiter*innen etc. wurden konsultiert. Es ist eine Entscheidung, die machtpolitischen Interessen folgt, nicht den gesellschaftlichen Lern- und Orientierungsbedürfnissen der Kinder und Jugendlichen.
Anstelle eines interdisziplinären Studien- und Unterrichtsfachs „Sozialwissenschaften“ soll in der Sek. I und II zunächst das Fach Wirtschaft/ Politik treten. Das ist weder ein Fortschritt noch ein Ersatz. Das Fach Sozialwissenschaften ist ein Integrationsfach mit eigener inhaltlicher, methodischer und didaktischer Prägung. Gesellschaftliche Probleme sind komplex. Sie orientieren sich nicht an disziplinären Grenzen. Die Fähigkeit, sich interdisziplinär mit gesellschaftlichen Herausforderungen und Problemen auseinanderzusetzen, sie deuten und Maßnahmen ergreifen zu können, ist die zentrale Leitidee der sozialwissenschaftlichen Bildung. Kinder müssen lernen, in komplexen gesellschaftlichen Situationen sich orientieren und handeln zu können. Wer meint, dieses Bildungsziel durch ein neues Studien- und Unterrichtsfach Wirtschaft/Politik ersetzen zu können, hat nicht verstanden, was genuin sozialwissenschaftliche Bildung ausmacht. Langfristig, das steht zu befürchten, werden die derzeit noch bestehenden politischen Studien- und Bildungsinhalte immer weiter verdrängt, so wie es mit den gesellschaftswissenschaftlichen Perspektiven bereits durch den vorliegenden LZV-Entwurf erfolgt.
Eine nachvollziehbare Begründung für die Abschaffung des Faches gibt es nicht! Wenn eine stärkere Verankerung der Ökonomie beabsichtigt wurde und wird, ist dies schon längst geschehen. Kein anderer Bildungsbereich wurde in den letzten 15 Jahren so massiv ausgebaut wie die ökonomische Bildung.
Lehrerbildung durch Interessenverbände
Mit großer Irritation haben wir in der Stellungnahme der Landesregierung auf die Kleine Anfrage vom 28.12.2020, beantwortet am 05.01.2021 mit der Nr. 17/12231 gelesen, wie sich die Landesregierung die Qualifizierung der Lehrkräfte vorstellt: Neben einigen Plätzen für Zertifikationskurse verweist die Landesregierung auf Fortbildungsangebote von Universitäten, der Deutschen Bank, Verbänden und Stiftungen.
Mit anderen Worten, schreibt man die derzeitigen Verhältnisse fort, werden Fortbildungen, von wenigen Angeboten abgesehen, vornehmlich von unternehmensnahen Stiftungen und Verbänden durchgeführt, z. B. von Versicherungen, Banken, dem Bundesverband deutscher Arbeitgeberverbände und dessen Netzwerk Schule-Wirtschaft. Die Unternehmerverbände und unternehmensnahen Stiftungen erhalten, im Gegensatz zu den Gewerkschaften, öffentliche Mittel in einem erheblichen Umfang für die Erstellung ihrer ökonomischen Bildungsangebote, z. B. vom Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (BMWi). Entsprechend einseitig werden die Fortbildungen wirtschaftspolitisch und paradigmatisch ausfallen. Die multiperspektivische und multiparadigmatische sozioökonomische Bildung an den Schulen in Nordrhein-Westfalen droht so abgeschafft zu werden. In einer sich wandelnden Welt, die multiperspektivisches Denken erfordert, wird Kindern damit zunehmend verwehrt, Wirtschaft verstehen und denken zu lernen, die über den Horizont eines verengten neoklassischen Paradigmas hinausreicht.
Vor allem aber, entzieht sich das Schulministerium erneut der Verantwortung, eine flächendeckende Lehrerfortbildung bereitzustellen.
CDU: Forderung nach politischer Bildung nur Lippenbekenntnisse?
Anstatt sich um eine bessere politische Bildung an den Schulen zu bemühen – hier ist seit Jahren der höchste Unterrichtsausfall und die höchste fachfremde Unterrichtsversorgung zu beklagen – setzt das von der FDP geführte Schulministerium auf die weitere Schwächung der in der nordrhein-westfälischen Verfassung verankerten Verpflichtung, an Schulen politische Bildung anzubieten. Erstaunlich ist in diesem Zusammenhang, dass der größere Koalitionspartner, die CDU, diese Entscheidung mitträgt. Was ist mit all den Bekenntnissen der CDU zur Bedeutung politischer Bildung für ein demokratisches Gemeinwesen? Aus Rücksichtnahme gegenüber der FDP lässt man zu, dass mit der sozialwissenschaftlichen Bildung ein nordrhein-westfälisches Erfolgsmodell zerstört wird.
Dies geschieht zu Lasten der Kinder und Jugendlichen, die in Zukunft noch stärker alleine gelassen werden bei der Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Problemen. Ihnen wird die gesellschaftliche Perspektive auf gesellschaftliche, politische und ökonomische Herausforderungen und Proble-me in Zukunft weitgehend verwehrt. Und dies in Zeiten, in denen eine umfassende gesellschaftliche Bildung nötiger denn je ist.
Von einer Abschaffung der Sozialwissenschaften war in den Wahlprogrammen nichts zu lesen, weder bei der FDP noch bei der CDU.
Zukunft von angehenden Lehrkräften für Sozialwissenschaften ungeklärt – das MSB zerstört Karrieren zukünftiger Lehrkräfte
Große Sorgen bereitet uns die Zukunft derjenigen jungen Menschen, die derzeit im Studium für das Lehramt „Sozialwissenschaften“ sind. Haben sie noch eine Chance, in den Schuldienst eintreten zu können? Das unverantwortliche Agieren des Schulministeriums mit der Zukunft angehender Lehrkräfte wird die Attraktivität des Lehrerberufes noch weiter verringern.
Wir fordern von der Landesregierung den Erhalt des Studienfachs „Sozialwissenschaften“ – im Interesse unserer Kinder und eines demokratischen Miteinanders.
Mit freundlichen Grüßen
im Namen des Vorstands der DVPB NW