Thema: Späte Elternschaft – eine (un)gewollte Lebensform? (SW GK, Q1)
Inhaltsfeld 6: Strukturen sozialer Ungleichheit, sozialer Wandel und soziale Sicherung, Sozialer Wandel, Individualisierung und Entstrukturierung
Aufgabenart: Darstellen – Analysieren – Diskutieren
Aufgaben:
1. Stelle den demografischen Wandel dar und verdeutliche an zwei Beispielen, welchen Einfluss der Wandel der Familie auf die Bevölkerungsstruktur hat. (26 Punkte)
2. Analysiere den Text, indem du die Argumentation der Autorin zum Phänomen der späten Elternschaft als neues biographisches Muster im Hinblick auf Geschlechtsrollenwandel und Individualisierung herausarbeitest. (44 Punkte)
3. Erörtere die Frage, ob eine späte Elternschaft als Ergebnis einer Überforderung der Menschen (Z. 50) in der „Rushhour des Lebens“ (Z.44) oder als Ausdruck einer selbstbestimmten Lebensentscheidung gedeutet werden kann.
Materialgrundlage: Thimm, Katja: Oh Baby, in: Der Spiegel, 17 (2014), S.32-41 (gekürzt).
Zur Autorin: Katja Thimm, studierte Politikwissenschaft, Romanistik und Neuere Geschichte. Sie war als Redakteurin beim Stern, beim NDR-Fernsehen und im Wissenschaftsressort des SPIEGEL tätig, seit 2009 ist sie Reporterin beim SPIEGEL.
Text:
Oh, Baby!
Eine junge Mutter wollte Luise Helbach werden, von zwei, drei, auch vier Kindern träumte sie, von Trubel und Zusammenhalt unter Geschwistern. Es kam nicht dazu. Irgendwie habe das Leben ständig anderes gebracht, sagt die zupackend wirkende Frau. Eine Buchhändlerlehre, ein Studium, verschiedene Partner, Umzüge, berufliche Krisen – die Jahre seien nur so zusammengeschnurrt. Mit 44 Jahren nun ist sie selbständige Kulturberaterin und ihr Sohn, das einzige Kind, gerade mal zwei Jahre alt. […] Es ist eine wachsende Gruppe, lauter Paradebeispiele eines neuen biografischen Musters. „Späte Eltern” nennen Wissenschaftler die etablierten Frauen ab Mitte dreißig und ihre oft noch älteren Männer. […]. Nachwuchs ist, wenn überhaupt, für viele Menschen ein Projekt der zweiten Lebenshälfte. „Ein Megatrend”, urteilt Wolfgang Holzgreve, Professor für Frauenheilkunde und Ärztlicher Direktor am Universitätsklinikum Bonn, „er wird in seiner Bedeutung noch vollkommen unterschätzt.” […]
Die Zahlen: Waren Frauen in Westdeutschland 1970 bei ihrer ersten Entbindung durchschnittlich 24 Jahre alt, sind sie heute 29, jene mit Studium sogar 33 Jahre; im Osten liegt der mittlere Wert bei 28 Jahren. Vor allem die Schar später Mütter wächst – und führt, wie Daten des Statistischen Bundesamts nahelegen, sogar zu einem Rückgang der hohen Kinderlosigkeit von Akademikerinnen. Während die Geburtenzahl bei den unter 30-Jährigen sinkt, steigt sie bei Frauen ab 40 seit Jahren an. […] Die Zahlen überraschen selbst Experten für Familienpolitik. Fortpflanzung im fortgeschrittenen Alter erschien lange nicht besonders relevant. […] Nun aber erfahren die Vernachlässigten zunehmend Aufmerksamkeit – auch als Musterexemplare „verantworteter Elternschaft”. […]
In Umfragen sehen 46 Prozent der unter 45-Jährigen eine abgeschlossene Berufsausbildung beider Partner als „unabdingbar” für eine Familiengründung an; 60 Prozent finden außerdem, dass mindestens ein Elternteil über eine gesicherte Arbeitsposition verfügen müsse. Doch zahlreiche junge Erwachsene sind noch mit Ende zwanzig wirtschaftlich von den eigenen Eltern abhängig; mehr als ein Drittel aller 25-jährigen Männer wohnt nach wie vor zu Hause. Studium, Einstieg in den Beruf, erste Karriereschritte, Festigung der Position, Kinder: Die typische deutsche Erfolgsbiografie ist linear und sieht unumkehrbare Experimente wie Elternschaft erst am Ende vor. Nur etwa fünf Prozent der Studenten sind Vater oder Mutter.
Mit wachsendem beruflichem Erfolg dann schleicht sich eine Kosten-Nutzen-Rechnung ins Leben: Männer kalkulieren das neue väterliche Rollenbild, das auch von ihnen Familienarbeit verlangt, Frauen die Dreifachbelastung aus Erwerbstätigkeit, Haushalt und Kinderbetreuung. Vor allem sie zahlen in der Regel mit Karriereknick und Einkommensverlust – als langfristige Festlegung vertragen sich Kinder nicht mit dem herrschenden Anspruch an Flexibilität und Mobilität. […]
Es sei eine „Rushhour des Lebens” entstanden, ein Lebensstau, den junge Erwachsene heute zu bewältigen hätten, urteilt der Soziologe Hans Bertram. Tatsächlich bleiben üblicherweise fünf bis sieben Jahre, um sich beruflich zu etablieren, eine stabile Partnerschaft aufzubauen und Kinder zu zeugen, bevor die Biologie beginnt, Grenzen zu setzen. Es sind Mammutaufgaben in einer Rekordzeit, die viele nicht erreichen – also verschieben sie die Kinderfrage. Politisch gesehen seien späte Eltern trotz all ihrer Vorzüge daher „Schlüsselfiguren einer überforderten Generation”, schließt Bertram, lauter Beweise für die widrige Ökonomisierung des Daseins. Entsprechend grundlegend sind die Reformvorschläge des Politikberaters. Finanzielle Anreize und ein Ausbau von Infrastruktur reichten nicht aus, argumentiert er. Dass Geld allein keine Kinder schafft, zeigen auch die jüngsten Prognosen, denen zufolge die Geburtenrate trotz Elterngeld, Krippen-Offensive und Ganztagsschulen nicht steigen wird. „Natürlich sind Ganztagsschulen unverzichtbar, die verlässlich bis in den späten Nachmittag hinein geöffnet haben und Eltern außerdem aus der Verantwortung für Nachhilfe und Hausaufgaben entlassen”, sagt Bertram. „Aber in erster Linie müssen wir unsere Ideen von Ausbildung und Arbeit überdenken.“ „Unser System aber ist so starr, dass wir Frauen einen Teil ihrer Kompetenzentwicklung nehmen, wenn sie sich zu früher Mutterschaft entschließen”, kritisiert auch der Bremer Soziologe Huinink. „Wir brauchen verlässliche Karriereaussichten in Teilzeitjobs. Qualifizierte Frauen müssen die Gewissheit haben, dass ihnen Führungskräftetrainings und Spitzenpositionen trotz Kindern offenstehen.” Dann, meint der Soziologe, würden sich viele wohl früher für eines entscheiden. Die Einsicht, dass die klassischen biografischen Muster nicht zukunftsträchtig sind, ist längst auch in die Politik eingezogen […]: Väter und Mütter sollen die Elternzeit flexibler handhaben können; bei Karrieren im Öffentlichen Dienst soll Kindererziehung positiv berücksichtigt werden, und das Elterngeld soll sich künftig 28 Monate lang ohne finanzielle Einbußen mit einer Teilzeitarbeit kombinieren lassen, um den Anschluss an das Berufsleben zu erleichtern.