Thema
Gerechtigkeit schaffen durch Umverteilung?
Aufgaben
- Analysieren Sie den vorliegenden Artikel hinsichtlich der Ansicht des Autors zur Schaffung sozialer Gerechtigkeit in Deutschland.
- Erörtern Sie einen selbst gewählten sozialpolitischen Ansatz zur Minderung sozialer Ungleichheit in Deutschland – beispielsweise Mindestlohn, Spitzensteuersatz (Z. 3-4).
Materialgrundlage
Torsten Riecke: Staatliche Umverteilung löst keine Probleme. In: Handelsblatt vom 14.01.2012
Der Autor ist Redakteur und leitet das Ressort Meinung und Analyse beim Handelsblatt.
Staatliche Umverteilung löst keine Probleme
Kaum etwas treibt die Menschen in Krisenzeiten derart um wie der Wunsch nach Gerechtigkeit. Die deutschen Sozialdemokraten wollen 2013 unter dem Banner der sozialen Gerechtigkeit in die Bundestagswahlen ziehen. Spitzensteuersatz, Mindestlohn, Börsensteuer sind nur einige Stichworte, die von den Sozis
dabei ins Feld geführt werden. […]
Fast immer geht es also um Umverteilung von Reich zu Arm – und fast immer soll der Staat als Robin Hood für Gerechtigkeit sorgen. So verständlich und berechtigt der Wunsch nach mehr Fairness ist, eine Debatte über eine staatliche Umverteilung führt uns wieder zurück in die Schützengräben eines ideologischen Stellungskrieges: keine Bewegung und hohe Verluste für alle. Besser wäre es, die vorhandenen Mittel des Staates gerechter zu verteilen und die Erfolgreichen bei ihrem Eigeninteresse zu packen. […]
[I]st es etwa gerecht, der Wirtschaft einen allgemeinen Mindestlohn zu verpassen, wenn dadurch zugleich viele Billigjobs wieder verschwinden? Wollen wir also lieber wieder Massenarbeitslosigkeit mit Steuergeldern alimentieren
oder den Betroffenen durch zweifellos schlecht bezahlte Jobs zumindest die Chance geben, ihre Situation zu verbessern und ihr Leben selbst zu gestalten?
Halt, werden jetzt die Gewerkschaften sagen. Der Blick in die Einkommensstatistik zeige doch, dass die Ungleichheit in Deutschland stark zugenommen habe. Richtig. Nur: Wenn wir mehr Menschen in Arbeit mit niedrigen Löhnen bringen, kommt es unweigerlich zu einer Verschiebung der Einkommensverteilung. Wer das als ungerecht brandmarkt, muss die Frage beantworten, ob der Zustand hoher Arbeitslosigkeit unter den Geringqualifizierten gepaart mit einer weniger ungleichen Einkommensverteilung unter den Beschäftigten gerechter ist.
Denn um diese Alternative geht es. Die Vorstellung, man könne der Wirtschaft einen Mindestlohn vorschreiben und zugleich darauf hoffen, dass die Unternehmen mehr Leute einstellen, widerspricht den Erfahrungen, die wir in Deutschland mit den Arbeitsmarktreformen gemacht haben.
Unscharf wird die Gerechtigkeitsdebatte auch beim Thema Spitzensteuersatz. Die Befürworter sagen, es sei nur gerecht, wenn diejenigen mit breiten Schultern mehr Lasten tragen als bisher. Das ist jedoch mehr ein Aufruf zur Solidarität als zur Leistungsgerechtigkeit. Wenn wir die Anreize zur Mehrarbeit immer stärker reduzieren, können wir die Gerechtigkeitsdebatte bald beenden. Warum? Weil es dann immer weniger zu verteilen gibt. Es mag widersprüchlich klingen und bleibt dennoch richtig: Wer möchte, dass unten mehr vom Reichtum einer Gesellschaft ankommt, wird das nur durch mehr Leistungsgerechtigkeit auch für die oben erreichen. Wer einfach den Spitzensteuersatz erhöht, würgt jedoch die Leistungsbereitschaft in der Gesellschaft ab. Warum soll man den zusätzlichen „Meter“ gehen, wenn man dafür nur mit knapp der Hälfte belohnt wird?
Müssen wir uns also mit einer zutiefst ungerechten Welt abfinden? Nicht unbedingt. Statt den von allen erarbeiteten Reichtum nach dubiosen Gerechtigkeitsvorstellungen platt umzuverteilen, sollte der Staat lieber die Chancen der einkommensschwachen Familien erhöhen und die soziale Mobilität verbessern. Das hat viel mit Bildung zu tun. Auch das kostet etwas, doch darf man daraus nicht wie in Deutschland sofort den Schluss ziehen, die Steuern zu erhöhen. […] [Denn unter] den Erfolgreichen der Gesellschaft [wächst] die Erkenntnis, dass mehr Gerechtigkeit in ihrem ureigensten Interesse liegt. Ist doch Fairness im Sinne einer Leistungsgerechtigkeit der Kitt, der eine Gesellschaft von unten bis oben zusammenhält.
Kriterien für die Bewertung von Schülerleistungen (1. Prüfungsteil)
Aufgabe I
Der Prüfling
- ordnet den Text, der im Januar 2012 im Handelsblatt erschienen ist, als Diskussionsbeitrag des Journalisten Riecke zur Sozialpolitik in der Bundesrepublik Deutschland ein.
- analysiert die Positiondes Autors, z.B.:
- Durch staatliche Umverteilung von Reich zu Arm werde kein Beitrag zur Erhöhung sozialer Gerechtigkeit geleistet.
- Die Erhöhung der Chancen zum sozialen Aufstieg (durch beispielsweise Bildung) vermöge mehr Gerechtigkeit (Leistungsgerechtigkeit) schaffen.
- analysiert den Begründungszusammenhangzur Position in folgender oder gleichwertiger Weise:
- Ausgangslage im Artikel ist die wiederkehrende Diskussion zur sozialen Umverteilung, die häufig ideologisch geführt werde.
- Autor argumentiert am Beispiel von Mindestlöhnen und Spitzensteuersatzgegen die von Befürwortern der staatlichen Umverteilungsaufgabe angeführten Positionen:
- Mindestlöhne hätten höhere Arbeitslosigkeit zur Folge,
- die Erhöhung des Spitzensteuersatzes mindere die gesellschaftliche Leistungsbereitschaft.
- Autor schlussfolgert, dass mehr Leistungsgerechtigkeit gesellschaftliche Gerechtigkeit herzustellen vermöge.
- analysiert die Argumentationsweise, z.B.:
- Argumente werden häufig als Gegenfrage formuliert,
- Autor formuliert allgemeine Behauptungen, die empirisch nicht belegt werden.
- erschließt die Intention des Autors, z.B.:
- Warnung vor vermeindlich als gerecht empfundener Umverteilung, welche gesellschaftliche Weiterentwicklung nicht fördere,
- Werben für neoliberale Wertvorstellungen in der Gesellschaftspolitik.
Aufgabe II
Der Prüfling
- erörtert einen sozialpolitischen Ansatz – z.B. branchenweite Mindestlöhne –,…
- indem er sich mit befürwortendenArgumenten auseinandersetzt, z.B.:
- Mindestlöhne mindern prekäre Beschäftigungsverhältnisse und verbessern die Lebensbedingungen der Beschäftigen im Niedriglohnsektor;
- Mindestlöhne balancieren das als unsozial deklarierbare Marktversagen aus, welche gem. des Sozialstaatsgebotes eine Grundaufgabe der Sozialpolitik ist.
- indem er sich mit ablehnendenArgumenten auseinandersetzt, z.B.:
- Mindestlöhne erhöhen die Produktionskosten (i.S. einer Verschlechterung der Standortbedingungen) und können auf diesem Weg zu Outsourcing oder Offshoring führen;
- der bundesdeutsche Arbeitsmarkt ist durch die Tarifautonomie in einzelnen Branchen gekennzeichnet. Staatliche Mindestlöhne beschneiden das Recht auf tarifliche paritätische Selbstbestimmung.
- indem er sich mit befürwortendenArgumenten auseinandersetzt, z.B.:
- nimmt in einem konsistenten Argumentationsgang abschließend Stellung zur gewählten sozialpolitischen Maßnahme.
Für eine ausreichende Leistung wird erwartet:
Der Prüfling analysiert den Text in seinen Grundzügen, indem er in Ansätzen die Intention und die Argumentationsstruktur des Textes herausarbeitet (i.d.R. einen Aspekt). Der Prüfling entwickelt auf der Grundlage von allgemeinen Fachkenntnissen ein vorläufiges Urteil, das mit je einem Pro- und Kontra-Argument begründet wird.
Für eine gute Leistung wird erwartet:
Der Prüfling nimmt eine zutreffende, den methodischen Aspekten entsprechende Textanalyse vor, in der i.E. die Position, die Argumentationsstruktur und die Intention des Textes strukturiert herausgearbeitet und am Text belegt werden. Der Prüfling entwickelt auf der Grundlage von Fachkenntnissen ein eigenständiges Urteil, das mit je zwei gewichteten Pro- und Kontra-Argumenten begründet wird.
Mögliche Impulse im Prüfungsgespräch (2. Prüfungsteil)
Schwerpunkte: Sozialstruktur, Wirtschaftspolitik, ggf. Europapolitik
- Die Autorin spricht in ihrem Text davon, dass von staatlicher Seite nicht mehr umverteilt werden sollte. Andererseits wird beispielsweise von der Partei „Die Linke“ mehr Umverteilung verlangt. Erläutern Sie mir doch bitte, worauf sich diese Argumentation stützt. (Ideologischer Hintergrund: Soziale Gerechtigkeit (Bedarfs- bzw. Verteilungsgerechtigkeit), ökonomisch-funktionaler Hintergrund: zusätzliche Konsumnachfrage (Keynes))
- Dann stellen Sie doch bitte ein entsprechendes Sozialstrukturmodell vor. (Grundstruktur, Unterscheidungsparameter, Gruppen, ideologischer Gehalt)
- Ein Fokus in der Argumentation liegt auf Schaffung von Chancengerechtigkeit. Dabei wird ja immer gern die Bildung angeführt, welche eine entscheidende Rolle spielt. Wie beurteilen Sie die Chancengerechtigkeit in Deutschland? (Rückgriff auf Pisa: „Vererbung“ von Bildungschancen aufgrund von leistungsfremden Faktoren)
- Es gibt Autoren die inzwischen wieder von einer Klassengesellschaft in Deutschland sprechen. Analysieren Sie doch bitte, was genau damit gemeint sein könnte. (Klassenbegriff von bspw. Marx kann modernisiert werden: Ehemalige Besitzklassen sind heute ökonomische „Elite“, welche z.B. über größere Ressourcen verfügen, den nachfolgenden Generationen einen Chancenvorsprung zu verschaffen, über den Filter „Bildung“ ergibt sich scheinmeritokratisches soziales Gefüge, insofern ergeben sich in D zunehmend zwei größere soziale Gruppen, die voneinander abhängig sind (Arbeitgeber, Nehmer), in D bestehen die Klassen auch über Generationen hinweg)
- Nun wird doch auch häufiger argumentiert, dass staatliche Förderung der unteren sozialen Schichten für höhere Nachfrage sorgt, was letztlich durch höheres Wachstum der gesamten Gesellschaft zugute kommt. Das ist doch typische keynesianische Wirtschaftspolitik. Was halten Sie in der heutigen Situation davon?
- Stellen Sie doch bitte kurz die Grundzüge der keynesianischen Wirtschaftspolitik dar.
- Was spräche gegen eine entsprechende Wirtschaftspolitik?
- Sie sprechen hier die derzeitige Eurokrise an. Der ehemalige Chef der Europäischen Zentralbank Trichet hat kürzlich erst die Idee vorgetragen, zukünftigen Krisen mit einer Art europäischen Wirtschaftsregierung zu begegnen. Er schlug vor, dass die Kommission zusammen mit dem Rat der Finanzminister und der EZB angeschlagenen Staaten Mitbestimmungsrechte bei der Wirtschafts- und Finanzpolitik beikommen soll. Wie beurteilen Sie diesen Vorschlag?
- Wohin ginge dann Europa? Ordnen Sie doch bitte Trichets Vorschlag ein!
Für eine ausreichende Leistung wird erwartet:
Der Prüfling begründet seine persönlichen Ansichten und Urteile auf Basis einer ansatzweise differenzierten und theoretisch/empirisch fundierten Argumentation. Er analysiert teilweise zutreffend und differenziert. Insgesamt weist der Prüfling wesentliche Aspekte im Hinblick auf methodische Fähigkeiten, Sachkenntnisse und der Fähigkeit zur Urteilsbildung in Grundzügen nach.
Für eine gute Leistung wird erwartet:
Der Prüfling begründet seine persönlichen Ansichten und Urteile auf Basis einer differenzierten und theoretisch/empirisch fundierten Argumentation. Er analysiert zutreffend und differenziert. Insgesamt weist der Prüfling wesentliche Aspekte im Hinblick auf methodische Fähigkeiten, Sachkenntnisse und der Fähigkeit zur Urteilsbildung vollständig nach.