Aufgabenart:
Analyse – Darstellung – Diskussion
Aufgabenstellung:
- Analysiere den vorliegenden Text hinsichtlich der von Piper vertretene Ansicht, wie den Folgen der Weltwirtschaftskrise entgegnet werden soll. (42 Punkte)
- Pipers Überlegungen stehen in der Tradition der klassischen Außenhandelstheorie. Stelle die Grundprinzipien des weltweiten Freihandels und die Theorie (Entstehungsgeschichte, Grundannahmen, Prämissen) der komparativen Kostenvorteile (Ricardo) dar. (28 Punkte)
- Oskar Lafontaine (damals SPD-Ministerpräsident im Saarland) forderte 1993: „Es geht nicht ohne Protektionismus.“ (Zitat: FOCUS 36/1993; Zusammenhang: Diskussion um den Schutz der deutsche Stahlindustrie) Diskutiere inwieweit der Protektionismus heute für die heimische Industrie ein sinnvolles und tragfähiges Konzept darstellt. (30 Punkte)
Textgrundlage:
Piper, Nikolaus: National geht nicht. Aus: Süddeutsche Zeitung vom 25.02.2010.
Der Autor ist Journalist und Ressortleiter „Wirtschaft“ bei der Süddeutschen Zeitung.
Text:
National geht nicht
Von Nikolaus Piper
Nach der Katastrophe kommt die Katastrophenstatistik. Das Schlimmste der Krise ist vorbei, aber kaum eine Woche vergeht, ohne dass jemand feststellt, die Größe XYZ habe sich so schlecht entwickelt wie noch nie seit dem Zweiten Weltkrieg oder gar der Weltwirtschaftskrise. Diesmal ist es der Welthandel: Noch nie seit 1945 ist der internationale Austausch von Waren und Dienstleistungen so eingebrochen wie 2009, teilte die Welthandelsorganisation WTO mit. Mit minus zwölf Prozent ist der Einbruch sogar noch stärker als der zuvor prognostizierte Rückgang um zehn Prozent.
Die Zahl zeigt, wie ernst die Lage im vorigen Jahr wirklich war. Über sechzig Jahre lang trieb der Handel die Weltwirtschaft voran In schlechten Jahren gingen Exporte und Importe nur minimal zurück, in guten wuchsen sie umso schneller. Handel war der Wachstumsmotor schlechthin. Diesmal war dies anders. Erstmals seit 1945 ist das Weltsozialprodukt insgesamt gesunken, und der Handel hat diese Entwicklung noch überzeichnet. Eine Folge davon war, dass in einer Exportnation wie Deutschland die Wirtschaftsleistung besonders stark zurückging. In diesem Jahr dürfte sich die Lage wieder normalisieren, vor allem dank der Nachfrage aus Schwellenländern wie China, Indien und Brasilien.
Es gibt dabei auch eine gute Nachricht. Der Einbruch des Welthandels wurde wenigstens nicht noch politisch verstärkt. Die Welle des Protektionismus, die in den dreißiger Jahren die Welt in den Abgrund geführt hat, ist ausgeblieben. Die internationale Staatengemeinschaft hat, im Gegenteil, während der schlimmsten Monate der Krise vorbildlich zusammengearbeitet. Allerdings gibt es jetzt eine gegenläufige Bewegung: Der Trend ist nicht offen protektionistisch, sondern hat mehr mit einer fast zwangsläufigen Konzentration der Politik und der Öffentlichkeit auf das Nationale zu tun. Als Folge der Finanzkrise mischt der Staat heute in den meisten Industrieländern so stark in der Wirtschaft mit wie seit Jahrzehnten nicht mehr.
Und das hat Folgen. Natürlich denkt die Bundesregierung, wenn es um den Finanzsektor geht, zunächst an die deutschen Banken. Natürlich verhält sich General Motors seit der Übernahme durch die Regierung Obama als das, was er ist: ein amerikanischer Staatskonzern. Und natürlich dominieren bei der Frage der Bankenregulierung nun, da der direkte Druck nachlässt, wieder die innenpolitischen Prioritäten, besonders in den Vereinigten Staaten, aber auch in Europa.
Eine etwas bizarre Abwandlung dieses nationalen Denkens ist die Debatte über Löhne, Exporte und Wachstum, die in Deutschland geführt wird. Man müsse, sagen zum Beispiel die Linkspartei und maßgebliche Teile der Gewerkschaft Verdi, hierzulande die Löhne kräftig erhöhen, um die Binnennachfrage zu stärken und die Abhängigkeit vom Export zu verringern. Der Haupteffekt so einer Strategie wäre, natürlich, ein weiterer Anstieg der Arbeitslosigkeit.
In Wirklichkeit gibt es keine nationalen Auswege aus der Krise. Jedes Land muss zwar seine hausgemachten Probleme lösen. Niemand kann Griechenland die Sanierung der Staatsfinanzen abnehmen. Diese Sanierung kann aber dauerhaft nur dann erfolgreich sein, wenn die Griechen offene und wachsende Weltmärkte finden, damit sie aus ihren Problemen herauswachsen können. Was für Griechenland im Kleinen gilt, gilt für die Industrieländer im Großen: Sie brauchen günstige Rahmenbedingungen, um ihre krisenbedingten Schuldenprobleme zu entschärfen. Wachstum ist dabei nicht alles, aber ohne Wachstum ist alles andere – zum Beispiel Haushaltskürzungen – nichts. Und für Wachstum sind offene Weltmärkte notwendig.
Höchste Zeit, dass die Verhandlungen in der WTO über eine neue Runde der Handelsliberalisierung („Doha-Runde”) doch noch abgeschlossen werden. Die Gespräche hatten einst in der letzten, vergleichsweise milden Rezession und unter dem Eindruck der Terroranschläge vom 11. September 2001 begonnen. Mittlerweile waren sie fast gescheitert. Vielleicht erlaubt das Trauma von 2009 jetzt die Umkehr in letzter Minute.
Erläuterungen:
Doha-Runde (V.42): wird ein Paket von Aufträgen bezeichnet, die die Wirtschafts- und Handelsminister der WTO-Mitgliedstaaten 2001 auf ihrer vierten Konferenz in Doha bearbeiten und bis 2005 abschließen sollten. Das Arbeitsprogramm umfasste sowohl formelle Verhandlungen wie auch Aufträge zur Analyse spezieller Einzelthemen. Die Verhandlungen sind mehrfach an der geforderten Liberalisierung des Agrarsektors (Leichterer Marktzugang für Produkte von Entwicklungsländer in Industriestaaten – Abbau von Zöllen und Agrar-Subventionen).