Sozialer Wandel (Inhaltsfeld 6)
- StellenSie zwei Dimensionen des sozialen Wandels mitsamt ihrer Entwicklung und möglichen Indikatoren der Messung (AFB I) (24 Punkte)
- a)AnalysierenSie den Text „Entfristet uns!“ hinsichtlich der Position des Autors zu Zeitverträgen. (AFB II) (30 Punkte)
b) ErläuternSie außerdem die Erwartungen der Generation Y bzw. Z an den Arbeitsmarkt und bringen diese mit dem Text in Zusammenhang. (AFB II) (16 Punkte)
- BeurteilenSie, ob befristete Zeitverträge gesellschaftlich eine Gefahr oder Chance darstellen. Beziehen Sie hierbei aus dem Unterricht bekanntes Fachwissen ein (z.B.: Sozialer Wandel, Generationen, Gesellschaftsmodelle) und urteilen Sie kriteriengeleitet. (AFB III) (30 Punkte)
! Achten Sie außerdem auf Ihre Rechtschreibung, die Verwendung von Fachvokabular, eine korrekte Zitierweise, die sinnvolle Strukturierung Ihres Textes und die Trennung zwischen deutenden, wertenden und beschreibenden Aussagen. (Darstellungsleistung: 20 Punkte) |
Materialgrundlage:
- „Entfristet uns!“ vonBernd Kramer, am Januar 2017 in ZEIT ONLINE erschienen (https://www.zeit.de/karriere/beruf/2017-01/zeitvertraege-befristung-angestellte-arbeitnehmer/komplettansicht)
- Bernd Kramer ist freier Journalist. Er hat an der Universität Köln Volkswirtschaftslehre, Politikwissenschaften und Soziologie studiert und die Kölner Journalistenschule absolviert. Vor allem schreibt er über Bildung, Hochschule, Arbeit und Gesellschaft – und das unter anderem für “Spiegel Online”, DIE ZEIT, “fluter”, “Neon”, “Freitag” und “taz”.
Zugelassene Hilfsmittel:
- Wörterbuch zur deutschen Rechtschreibung
Entfristet uns!
Man muss ein wenig suchen, aber dann findet man ihn doch noch, den leisen Zorn. Zum Beispiel in einer Facebook-Gruppe, in der sich Betroffene sammeln. Die Gründerin, eine Frau, die sich Sophia nennt und in Aachen arbeitet, klagt über ihre Existenzangst, die einfach nicht aufhören will: “Man weiß nicht, wohin die Reise führt.” Einen Urlaub zu buchen traue sie sich nicht mehr; vielleicht braucht sie das Geld ja bald schon als Reserve. Ein Auto kaufen, eines Tages eine Wohnung, Kinder bekommen? Fehlanzeige, Fehlanzeige, Fehlanzeige. Es ist zermürbend: “Man wird angelernt, tut sein Bestes und darf gehen”, schreibt sie. […]
Oder Christiane aus Berlin. Eine Weile habe sie von zu Hause aus arbeiten müssen, weil ihr Kind einen Unfall hatte – ausgerechnet einen Monat vor Vertragsende. “Das war’s dann mit der Weiterbeschäftigung”, schreibt sie. Willkommen in der Welt der Zeitverträge.
In Deutschland arbeiten Menschen zu niedrigen Löhnen, in Mini-Jobs, in Leiharbeitsfirmen ohne jede Regelmäßigkeit – trotz guter Konjunktur. Einen der größten Posten in der Statistik der atypischen Beschäftigung bildet aber die Befristung: 2,5 Millionen Menschen in Deutschland hatten zuletzt einen Vertrag mit Ablaufdatum. Es ist eine der gebräuchlichsten Formen, Mitarbeiter zappeln zu lassen, jedes unternehmerische Risiko auf sie abzuwälzen. Aber die Empörung darüber ist auffällig still, selbst in den gängigen Echokammern der Wut: Die Facebook-Gruppe gegen Befristungen zählt gerade einmal 48 Mitglieder.
Vielleicht liegt die Zurückhaltung ja daran, dass Zeitverträge vor allem junge Menschen unterschreiben müssen. 60 Prozent aller befristet Beschäftigten sind unter 35 Jahre alt, hatte die gewerkschaftsnahe Hans-Böckler-Stiftung kürzlich errechnet; Azubis und Praktikanten nicht einmal mitgezählt. Die Jungen dürften ohnehin so beschäftigt damit sein, sich im Berufsleben mit allen ausdrücklichen und unausgesprochenen Regeln zurechtzufinden, dass ihnen gar nicht weiter auffällt, welche Ungeheuerlichkeit ihnen da untergejubelt wurde. Und der Chef hatte es sowieso als die große Chance verkauft.
Wenn Mitarbeiter zu Wegwerfprodukten werden
Dabei ist es mitnichten so, dass eine Firma ihre Leute nie mehr loswürde, wenn sie ihnen von vornherein richtige Verträge gäbe. Unternehmen können eine Probezeit von bis zu sechs Monaten vereinbaren, innerhalb derer sie neue Mitarbeiter schnell wieder vor die Tür setzen können, nach Kriterien, die weitgehend sie bestimmen. Wer jung ist und noch nicht lange im Betrieb, genießt auch darüber hinaus einen geringeren Kündigungsschutz. Befristungen bringen das Paradox zustande, dass Mitarbeiter die Probezeit bestehen und doch den Job verlieren. Man kann Mitarbeiter loswerden, ohne ihnen eine Begründung schuldig zu sein. Zeitverträge höhlen aus, was ohnehin eher löchrig ist. Sie ist ein Freibrief, um Mitarbeiter wie Wegwerfartikel zu behandeln.
Natürlich gibt es Fälle, in denen es sinnvoll sein kann, ein Ablaufdatum in einen Arbeitsvertrag zu schreiben. Zum Beispiel, wenn ein Angestellter in Elternzeit geht und jemand vorübergehend als Vertretung gebraucht wird. Das Problem sind aber vor allem Befristungen ohne jeden Grund. Bis zu zwei Jahre dürfen Chefs ihre Mitarbeiter mit Zappelverträgen hinhalten – und sie tun das auch sehr genüsslich: Mittlerweile ist fast die Hälfte aller Zeitverträge unbegründet. Und wenn die zwei Jahre abgelaufen sind und man seine Mitarbeiter gerne ein wenig weiter zappeln lassen möchte, finden sich auch dafür Möglichkeiten: Der Katalog der Befristungsgründe im Gesetz ist lang und vage genug. Irgendetwas lässt sich ja immer zur Projektarbeit deklarieren.
Im Betrieb gehören die Befristeten meist zu den Schwächsten: Sie müssen lächeln und hoffen. Betriebsräten sind in der Regel die Hände gebunden – denn eine Entfristung können die Arbeitnehmervertreter rechtlich nicht erzwingen. Und selbst für den Betriebsrat kandidieren, hilft leider auch nicht – denn der Kündigungsschutz gilt nur für Betriebsräte mit einem laufenden Vertrag. Läuft der Vertrag aus, muss auch ein befristetes Betriebsratsmitglied gehen.
[…]
Es gibt Studien zuhauf, die zeigen, wie zermürbend ein Leben in ständiger Bewährung ist: Befristet Beschäftigte sind seltener verheiratet und bekommen weniger Kinder, sie sind (nach anfänglicher Freude über die neue Stelle) deutlich unzufriedener in ihrem Job, fühlen sich öfter von der Gesellschaft ausgeschlossen, sind häufiger von psychischen Leiden geplagt.
Und doch muss man suchen, bis man in der Politik jemanden findet, der sich für ein Ende unendlicher Zeitverträge einsetzt. Etwa den Duisburger SPD-Bundestagsabgeordneten Mahmut Özdemir: “Wir erwarten von der jungen Generation, dass sie sich in die Gesellschaft einbringt. Aber wie soll sie das tun, wenn sie sich ohne jede Sicherheit von einer Befristung zur nächsten hangelt?” Er will die Regeln verschärfen, so stand es in aller Knappheit auch schon mal im Wahlprogramm seiner Partei. Seither hörte man nicht mehr davon. […]
Politik hat das Problem nicht auf der Agenda
Der Mindestlohn? Ist eingeführt. Eine Reform der Leiharbeit? Der Kampf gegen den Missbrauch von Werkverträgen? Steht alles im Koalitionsvertrag (und könnte aus Sicht der Betroffenen sicher auch weitergehender ausfallen). Nur zu den überbordenden Zeitverträgen findet sich im schwarz-roten Regierungsprogramm kein Wort[1].
Weil die Union nicht mitspielte, entschuldigt sich der Abgeordnete Özdemir. Er will mit der Befristung immerhin jetzt in den Wahlkampf ziehen. “Für mich ist das Thema beim nächsten Koalitionsvertrag nicht verhandelbar.” Dass die Politik das Problem bislang so beharrlich vergisst, könnte einen weiteren Grund haben: Der Staat selbst ist einer der größten Aussteller befristeter Arbeitsverträge. Jede Reform träfe zuerst ihn.
Im öffentlichen Dienst, dem angeblich letzten Hort sicherer Jobs, war zuletzt jede zehnte Stelle befristet. Die Quote liegt selbst dann noch über den Werten der Privatwirtschaft, wenn man die notorisch mitarbeiterunfreundlichen Universitäten ausklammert, wo praktisch sämtliche Nachwuchsforscher sich von Vertrag zu Vertrag hangeln. Und selbst die Chancen auf eine dauerhafte Übernahme sind beim Staat schlechterals in vielen privaten Firmen.
Unternehmen sollen atmen, wie es heute so schön heißt, je nach Auftragslage Mitarbeiter sanft kommen und wieder gehen lassen, tiefenentspannt. Ein. Und aus. Und ein. Und aus. Und die moderne Behörde atmet natürlich mit. Aus. Und ein. Und aus. Und ein.
Die Grummelnden bei Facebookwissen das zu gut. “Nach außen gut dastehen, aber für die eigenen Mitarbeiter nichts tun”, schimpft die Gruppengründerin. Ihr eigener Arbeitgeber bis zum März 2017 ist schließlich genau jene Anlaufstelle für alle, die nach der Befristung ausgeatmet werden: die Bundesagentur für Arbeit.
[1]Aktuelle Zusatzinformation:Im neuen Koalitionsvertrag zwischen CDU/CSU und SPD vom 12.3.2018 steht: „Wir haben einen wirklichen Durchbruch bei den Verhandlungen über die sachgrundlose Befristung und Kettenverträge erreicht: Möglichkeiten der befristeten Beschäftigung werden reduziert. Sachgrundlose Befristungen werden wieder zur Ausnahme, das unbefristete Arbeitsverhältnis soll wieder zur Regel werden in Deutschland. Endlose Kettenbefristungen werden abgeschafft“ (S. 12, Z. 377ff.).
** Klausur und EWH: SW GK Q2 Sozialer Wandel Klausur + EWH