Thema
Der Sozialstaat unter Reformdruck – eine Chance für mehr Gerechtigkeit?
Aufgaben
1. Stellen Sie anhand von Beispielen formale Prinzipien des deutschen Sozialleistungssystems dar!
2. Analysieren Sie den vorliegenden Text im Hinblick auf die Position Christoph Butterwegges zur Architektur des deutschen Sozialstaates. Ordnen Sie dabei die Auffassung des Autors in das Spektrum der Modelle sozialer Gerechtigkeit ein.
3. Erörtern Sie die Position des Autors zur Umgestaltung des Sozialstaats und entwickeln Sie auf dieser Basis Reformvorschläge im Bereich der sozialen Sicherung, mit denen der konstatierten Schieflage sozialer Gerechtigkeit begegnet werden kann.
Materialgrundlage
Christoph Butterwegge, Krise, Umbau und Zukunft des Sozialstaates (gekürzt), abrufbar unter: http://www.labournet.de/diskussion/arbeit/realpolitik/allg/butterwegge.html, Seite vom 18.05.08
Der Text basiert auf das 2005 erstmals erschienene Buch Butterwegges „Krise und Zukunft des Sozialstaates“.
Der Autor ist Professor für Politikwissenschaft an der Universität Köln. Bis November 2005 war er Mitglied der SPD.
Material
Krise, Umbau und Zukunft des Sozialstaats
[…] Ulrich Beck sprach in seinem 1986 erschienenen Buch „Risikogesellschaft“ von einem sozialen „Fahrstuhl-Effekt“ […]. Betrachtet man den weiteren Verlauf der Gesellschaftsentwicklung, kann zumindest seither von einem Paternoster1-Effekt die Rede sein: In demselben Maße, wie die einen nach oben gelangen, geht es für die anderen nach unten. Mehr denn je gibt es im Zeichen der Globalisierung ein soziales Auf und Ab, das Unsicherheit und Existenzangst für eine wachsende Zahl von Menschen mit sich bringt. […]
In einer Hochleistungsgesellschaft, die Konkurrenz bzw. Leistung geradezu glorifiziert und letztere mit Prämien, Gehaltszulagen oder Lohnsteigerungen prämiert, ist Armut funktional, weil sie nur die Kehrseite dessen verkörpert, was die Tüchtigeren und daher Erfolgreichen – übrigens in des Wortes doppelter Bedeutung – „verdient“ haben. Armut bildet keinen unsozialen Kollateralschaden des neoliberalen „Umbau“-Projekts, sondern dient seinen Befürwortern als Disziplinierungsinstrument, während materieller Wohlstand und Reichtum das Lockmittel darstellen, mit dem „Leistungsträger“ zu besonderen Anstrengungen motiviert werden sollen.
In der neoliberalen Weltsicht erscheint Armut nicht als gesellschaftliches Problem, vielmehr als selbst verschuldetes Schicksal, das im Grunde eine gerechte Strafe für Leistungsverweigerung oder die Unfähigkeit darstellt, sich bzw. seine Arbeitskraft auf dem Markt mit ausreichendem Erlös zu verkaufen, wie der Reichtum umgekehrt als angemessene Belohnung für eine Leistung betrachtet wird, die auch ganz schlicht darin bestehen kann, den Tipp eines guten Anlageberaters zu befolgen. Dagegen sind hohe Löhne bzw. Lohnnebenkosten der wirtschaftliche Sündenfall schlechthin und müssen als Ursache für die Arbeitslosigkeit und Wachstumsschwäche in Deutschland herhalten. […]
Fast allen bekannten Plänen, die den Sozialstaat sanieren sollen, wie den Konzepten der sog. Hartz-Kommission „zum Abbau der Arbeitslosigkeit und zur Umstrukturierung der Bundesanstalt für Arbeit“ sowie der […] „Agenda 2010“ liegt das neoliberale Dogma zugrunde, wonach die Massenarbeitslosigkeit in erster Linie durch Senkung der Lohnnebenkosten bekämpft werden muss. Es kommt aber in Wirklichkeit gar nicht auf die Höhe der (gesetzlichen) Personalzusatzkosten, also der von den Arbeitgebern zu entrichtenden Sozialversicherungsbeiträge, an. Entscheidend ist vielmehr die Höhe der Lohnstückkosten, welche in der Bundesrepublik aufgrund einer überproportional wachsenden Arbeitsproduktivität seit Jahren stärker sinken als in den meisten mit ihr auf dem Weltmarkt konkurrierenden Ländern, was im letzten Jahr zu einem Rekordüberschuss in der Handelsbilanz führte. […] Hinge das Wohl und Wehe einer Volkswirtschaft von niedrig(er)en Lohn- bzw. Lohnnebenkosten ab, wie Neoliberale behaupten, müssten in Bangladesch und Burkina Faso längst Vollbeschäftigung und allgemeiner Luxus herrschen!
Wer die Massenarbeitslosigkeit in der Bundesrepublik auf gestiegene Personalzusatzkosten zurückführt, wie es die Arbeitgeber, der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung und die Bundesregierung tun, verwechselt Ursache und Wirkung: Die hohe Erwerbslosigkeit ist zwar für die hohen Lohnnebenkosten verantwortlich, aber nicht umgekehrt. […]
Gegen eine Zurückdrängung der Beitrags- und einen Ausbau der Steuerfinanzierung des sozialen Sicherungssystems sprechen im Wesentlichen drei Gründe: Erstens unterliegen steuerfinanzierte – im Unterschied zu beitragsfinanzierten – Sozialausgaben den staatlichen Haushaltsrestriktionen; sie fallen deshalb eher den allgemeinen Sparzwängen der öffentlichen Hand zum Opfer; ihre Höhe ist von wechselnden Parlamentsmehrheiten und Wahlergebnissen abhängig. Wie sollen die ständig sinkenden Steuereinnahmen des Staates zur Finanzierungsbasis eines funktionsfähigen Systems der sozialen Sicherung werden? Schließlich haben alle Parteien die weitere Senkung von Steuern auf ihre Fahnen geschrieben. Zweitens muss man sich bloß die Struktur der Steuereinnahmen ansehen, um erkennen zu können, dass Unternehmer und Kapitaleigentümer im „Lohnsteuerstaat“ Deutschland kaum noch zur Finanzierung des Gemeinwesens beitragen; diese Schieflage der steuerlichen Belastung (nicht nur, aber vor allem bei indirekten Steuern) führt zu ihrer einseitigen Finanzierung durch Arbeitnehmer/innen […]. Zu fragen ist auch, welches Interesse die Unternehmer an einem Abbau der Arbeitslosigkeit, die ja ihre gesellschaftliche Position stärkt und die Gewerkschaften schwächt, überhaupt noch haben sollten, wenn sie die Kosten der Arbeitslosigkeit fast ganz auf die Allgemeinheit, hauptsächlich die Lohn- und Mehrwertsteuer zahlenden Massen abwälzen könnten. Drittens ist die Inanspruchnahme von Versicherungsleistungen für die Betroffenen weniger diskriminierend als die Abhängigkeit von staatlicher Hilfe […].
M.E.2 geht es darum, die spezifischen Nachteile des deutschen Sozialstaatsmodells auszugleichen, ohne seine besonderen Vorzüge preiszugeben. Strukturdefekte des „rheinischen“ Wohlfahrtsstaates bilden seine duale Architektur (Spaltung in die Sozialversicherung und die Sozialhilfe), seine strikte Lohn- und Leistungsbezogenheit […] sowie seine Barrieren gegen Egalisierungstendenzen (Beitragsbemessungsgrenzen […],Freistellung prekärer Beschäftigungsverhältnisse von der Sozialversicherungs- bzw. Steuerpflicht). Der entscheidende Pluspunkt [des Sozialversicherungssystems] gegenüber anderen Modellen liegt jedoch darin, dass seine Geld-, Sach- und Dienstleistungen keine Alimentation von Bedürftigen und Benachteiligten aus Steuermitteln darstellen, die je nach politischer Opportunität widerrufen werden kann, sondern durch Beitragszahlungen erworbene (und verfassungsrechtlich garantierte) Ansprüche.
Das in der Bundesrepublik bestehende System der sozialen Sicherung speist sich nur zu etwa einem Drittel aus Steuereinnahmen; zwei Drittel der Finanzmittel stammen aus Beiträgen der Versicherten und ihrer Arbeitgeber. Umso wichtiger wäre es, […] auf dieses Gebiet für mehr Beitragsgerechtigkeit zu sorgen. Statt alle nicht dem Äquivalenzprinzip entsprechenden Leistungen gleich als „versicherungsfremd“ zu brandmarken, was der Logik gewinnorientierter Privatversicherungen entspricht, müsste man überlegen, wie ein Mehr an solidarischer Umverteilung innerhalb der Sozialversicherungzweige zu realisieren und die Öffentlichkeit dafür zu gewinnen ist. […]
Hinsichtlich der Entwicklung des Wohlfahrtsstaates bedingt der Wettbewerb zwischen den „Wirtschaftsstandorten“ einen Abbau von Sicherungselementen für „weniger Leistungsfähige“, sofern man der Standortlogik folgt und eine neoliberale Politik dominiert.
Sinnvoll wären daher der Um- und Ausbau des bestehenden Systems zu einer Art „Bürgerversicherung“. Denn die noch vorhandenen Sicherungslücken können nur durch eine Universalisierung geschlossen werden: Eine allgemeine Versicherungs- und Mindestbeitragspflicht für sämtliche Wohnbürger/innen (eben nicht nur Arbeitnehmer/innen) würde die Sozialversicherung auf eine breitere Grundlage stellen, wobei der Staat die Beiträge im Falle fehlender oder eingeschränkter Zahlungsfähigkeit voll oder teilweise subventionieren, grundsicherungsorientiert und bedarfsbezogen zuschießen müsste.